Das Ministerium der Schmerzen (German Edition)
wie ein Klageweib vom Balkan – wie Hunderte Klageweiber zugleich. Die verfallenen Hausfassaden in Zagreb, Sarajevo, Belgrad, Budapest, Sofia, Bukarest und Skopje stimmten mich traurig, unangenehm berührte mich das schlechte Design der Verpackung der Schokolade »Brüderchen und Schwesterchen«, wobei mir auch ihr schlechter Geschmack in den Sinn kam, ich wehklagte wegen eines zufälligen Fragments, wegen einer Melodie, die gerade in meinem Kopf erklang, wegen eines Gesichts, das kurz aus der Dunkelheit auftauchte, wegen einer Stimme, eines Reims, eines Slogans, eines Geruchs, eines Bildes. Ich beweinte den allgemeinen Verlust der Menschen. Auch Kaufmans Trick, der meine Gefühle einem mehrfachen Looping aussetzte und mich dann wie eine reife Wassermelone platzen ließ, entlockte mir eine Träne. Die Binoche auf dem Zelluloid auch.
Meine Studenten müssen Ähnliches durchgemacht haben. Deshalb haben sie schlechte Aussichten auf Erfolg. Sie sind eine Sekunde, buchstäblich eine Sekunde zu spät, ihre Metamorphose wird nicht gelingen. Sie verraten sich durch einen leicht verdüsterten Blick, durch eine kaum wahrnehmbare innere Geducktheit, durch jene unsichtbare Ohrfeige in ihren Gesichtern, durch den von einer nicht definierbaren Kränkung im Hals stecken gebliebenen Kloß.
In ein, zwei Sekunden werden aus demselben postkommunistischen Gestrüpp, einem wandernden Wald gleich, völlig andere Leute hervordrängen, geschmückt mit Doktorarbeiten, die starke Titel tragen wie
Understanding the Past – Looking Ahead
. Es werden dies die Kinder von Tomas und Teresa sein, die in die Tschechoslowakei zurückkehrten, um dort zu sterben, zu sterben, weil sie zurückgekommen waren, denn die Rückkehr ist der Tod und das Bleiben die Niederlage … Diese Waisenkinder von Tomas und Teresa werden sich wie die Lachse auf den Weg machen, mit dem Unterschied, dass die Zeiten und die Gewässer andere sein werden. Auch die Reisenden sind andere, Menschen, deren Blicke wirklich
ahead
gerichtet sind und die die Vergangenheit nicht mehr verstehen, zumindest nicht auf die gleiche Weise. Aus trostlosen mongolischen, rumänischen, slowakischen, ungarischen, kroatischen, serbischen, albanischen, bulgarischen, weißrussischen, moldawischen, lettischen und litauischen Provinzen kommend, werden sie europäische und amerikanische Universitäten stürmen, diese neuen, kompatiblen Spieler, diese transitorischen Mutanten, Typen, die endlich wissen, »wo es lang geht«. Das wird ein starkes junges Heer sein von künftigen Managern, Organisatoren, Experten, Operatoren, von Fachleuten für Kulturmanagement, für Katastrophenmanagement, für politisches und ökologischesManagement, für das Management der Transition, für das Management des Lebens. Flinke Fischer im Trüben werden das sein, eine Gattung, die sich mit unmenschlicher Geschwindigkeit reproduzieren wird, als sei einzig die Reproduktion ihre Aufgabe und ihr Ziel. Diese Menschen werden bequem vom Unglück derer leben, denen sie helfen, denn auch das Unglück erfordert ein Management, ohne Management ist das Unglück nur ein Misserfolg. Sie werden Spezialisten sein für die Betreuung bulgarischer, bosnischer, weißrussischer, moldawischer und rumänischer Invaliden; bosnischer, georgischer, tadschikischer, kasachischer, tschetschenischer, kosovarischer, aserbaidschanischer und armenischer Kinderinvaliden; Spezialisten für europäische Minderheiten, für Zigeuner, für den Handel mit weißen, schwarzen und gelben Sklaven, für moldawische Prostituierte, für Flüchtlinge, Emigranten und Migranten, für Obdachlose. Mutanten werden das sein, die – effizient wie im Labor gezüchtete Viren – ihre Kontakte, ihre
networks
, ihre Verbände und Dachverbände, ihre Links und ihre Zentren ausbauen werden, künftige Fachleute für die televisuelle Kommunikation, für audiovisuelles Management, für
net
und
web.
Das werden die
Planer
fremder Leben und eigener Karrieren sein, solche, die
think deeply, read wildly and write beautifully.
Selbstbewusste Menschen, Menschen mit einer multiplizierten Identität, Kosmopoliten, Globalisten, Multikulturalisten, Nationalisten, Vertreter ethnischer und in der Diaspora verstreuter Identitäten, alles auf einmal, als hätten sie mehrere Köpfe auf einem Hals, flexibel, schnell beim Definieren, Selbstdefinieren und Redefinieren, beim Reflektieren und Selbstreflektieren, inventierend und reinventierend, modellierend und remodellierend, konstruierend und
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