Das Mitternachtskleid
einer halben Sekunde!«
Preston grinste. »Aber eine Hexe ist doch nicht irgendwer. Meine Oma hat immer gesagt, einer Hexe ein Geheimnis anzuvertrauen, ist dasselbe, wie gegen eine Wand zu flüstern.«
»Hm, tja.« Tiffany unterbrach sich. »Woher weißt du denn, dass er Gedichte schreibt?«
»Um das nicht zu wissen, müsste man schon blind sein«, antwortete Preston. »Er schreibt sie nämlich ins Parolenbuch, wahrscheinlich immer dann, wenn er Nachtdienst hat. Hinterher reißt er sorgfältig die Seiten raus, damit es keiner merkt, aber weil er so fest mit dem Bleistift aufdrückt, kann man es auf dem Blatt darunter ganz gut lesen.«
»Dann müssen es die anderen Männer doch auch mitbekommen haben«, sagte Tiffany.
Preston schüttelte den Kopf, dass sein übergroßer Helm leicht ins Kreiseln geriet. »Ach was, Fräulein, Sie kennen sie doch. Die denken, Lesen ist kindischer Weiberkram. Ich reiße mir immer die durchgedrückte Seite raus, wenn ich früh genug zum Dienst erscheine, damit sie ihn nicht auslachen. Und ich muss sagen, für einen, der sich das Dichten selber beigebracht hat, schlägt er sich gar nicht mal schlecht. Er kann wirklich gut mit Metaphern umgehen. Die Gedichte sind alle für eine gewisse Millie.«
»Das ist seine Frau«, sagte Tiffany. »Du hast sie sicher schon mal im Dorf gesehen – der sommersprossigste Mensch, den ich kenne. Sie… ist ein bisschen empfindlich, was ihre Sommersprossen angeht.«
Preston nickte. »Das erklärt vielleicht den Titel seines letzten Gedichts: ›Was wär‘ der Himmel ohne Sterne?‹«
»Das würde man ihm niemals zutrauen, nicht wahr?«
Preston machte ein nachdenkliches Gesicht. »Entschuldigen Sie«, begann er, »aber Sie sehen gar nicht gut aus. Ehrlich gesagt und nichts für ungut: Sie sehen schlimm aus. Wenn Sie jemand anders wären und sich sehen könnten, würden Sie sagen, dass Sie sehr krank sein müssen. Sie sehen aus, als hätten Sie überhaupt nicht geschlafen.«
»Aber ich habe letzte Nacht mindestens eine Stunde geschlafen. Und gestern ein Nickerchen gemacht! «, antwortete Tiffany.
»Tatsächlich?« Preston musterte sie streng. »Und abgesehen vom Frühstück heute Morgen, wann haben Sie das letzte Mal eine anständige Mahlzeit bekommen?«
Tiffany hatte das Gefühl, als ob sie von innen leuchtete. »Ich glaube, ich hatte gestern ein paar Häppchen … «
»Ach ja?«, sagte Preston. »Häppchen und Nickerchen? Davon kann man doch nicht leben. Davon kann man doch nur sterben!«
Er hatte Recht. Das wusste sie. Aber das machte es bloß noch schlimmer.
»Hör zu, ich werde von einem fürchterlichen Wesen gejagt, das einen Menschen mit Haut und Haar in Besitz nehmen kann. Und es ist meine Aufgabe, es zu erledigen!«
Preston blickte sich gespannt um. »Könnte es mich auch in Besitz nehmen?«
Hetze findet immer ein offenes Ohr , dachte Tiffany. Danke für diesen nützlichen Spruch, Frau Prust, aber Preston scheint mir auf dem Ohr taub zu sein. »Nein, ich glaube nicht. Das geht nur, wenn dieses Wesen an den Rechten gerät – beziehungsweise an einen Unrechten. Man muss schon eine gewisse Ader für das Böse haben.«
Zum ersten Mal wirkte Preston ehrlich beunruhigt. »Ich muss leider zugeben, dass ich auch das eine oder andere auf dem Kerbholz habe.«
Obwohl Tiffany auf einmal furchtbar müde wurde, musste sie lächeln. »Was war denn dein schlimmstes Verbrechen?«
»Ich habe mal von einem Marktstand eine Packung Buntstifte gestohlen.« Er sah sie trotzig an, als rechnete er damit, dass sie einen Schrei der Empörung ausstoßen oder entsetzt mit dem Finger auf ihn zeigen würde.
Doch sie schüttelte nur den Kopf. »Wie alt warst du da?«
»Sechs.«
»Preston, ich halte es für absolut ausgeschlossen, dass diese Kreatur jemals in deinen Kopf eindringen könnte. Von allem anderen einmal abgesehen, käme sie wohl schon deshalb nicht rein, weil darin viel zu viele und viel zu komplizierte Dinge ablaufen.«
»Fräulein Tiffany. Sie brauchen Ruhe. Sie müssen sich einmal richtig ausschlafen. In einem richtigen Bett. Was für eine Hexe soll das sein, die sich um alle anderen kümmern will, aber nicht vernünftig genug ist, um auf sich selber aufzupassen? Quis custodiet ipsos custodes. Das bedeutet: Wer, außer den Wächtern selbst, wacht über die Wächter?«, fuhr Preston fort. »Deshalb frage ich, wer wacht über die Hexen? Wer kümmert sich um die Leute, die sich um die Leute kümmern? Und es sieht mir ganz so aus, als ob es darauf
Weitere Kostenlose Bücher