Das Mitternachtskleid
raschelten trockene Gräser im Wind, doch jenseits der Wiese waren der große Kamin und die kämpfenden Ritter zu sehen.
»Es ist wirklich sehr wichtig, dass du dich nicht bewegst«, sagte die Stimme hinter ihr. »Der Ort, an dem du dich hier befindest, wurde für dieses Gespräch, nun ja, extra zusammengeschustert. Bevor du kamst, gab es ihn noch nicht, und wenn du wieder fort bist, gibt es ihn nicht mehr. Streng genommen, und nach den Maßstäben der meisten philosophischen Disziplinen, existiert er eigentlich überhaupt nicht.«
»Dann ist es ein magischer Ort? Wie die Mobilien?«
»Sehr vernünftig ausgedrückt«, antwortete Eskarinas Stimme. »Wer ihn kennt, nennt ihn das Wandernde Jetzt. Äußerst praktisch für ein Vieraugengespräch. Wenn es sich wieder schließt, bist du genau da, wo du vorher warst, und es wird keine Zeit vergangen sein. Verstehst du?«
»Nein!«
Eskarina setzte sich neben sie ins Gras. »Gott sei Dank!
Das wäre ein ziemlicher Schlag gewesen, wenn du da durchblicken würdest. Du bist wirklich eine höchst ungewöhnliche Hexe. Nach allem, was ich weiß, hast du eine angeborene Begabung fürs Käsemachen. Ein ausgesprochen nützliches Talent. Die Welt braucht Käserinnen. Eine gute Käserin ist nicht mit… nun ja, nicht mit Käse aufzuwiegen. Dann wurde dir also die Begabung fürs Hexen nicht in die Wiege gelegt.«
Tiffany öffnete den Mund, bevor sie wusste, was sie antworten wollte – ein bei Menschen nicht eben seltenes Phänomen. Was es durch den Pulk an Fragen über ihre Lippen schaffte, war: »Augenblick mal, gerade hatte ich noch ein brennendes Holzscheit in der Hand. Und jetzt haben Sie mich hierher verpflanzt, wo auch immer das genau sein mag. Was ist passiert?« Sie blickte ins Feuer. Die Flammen waren erstarrt. »Die Leute können mich doch sicher sehen«, sagte sie. Dann fügte sie zweifelnd hinzu: »Oder nicht?«
»Die Antwort lautet nein; der Grund ist kompliziert. Das Wandernde Jetzt ist … gezähmte Zeit. Zeit, die auf deiner Seite ist. Glaub mir, das ist noch lange nicht das Merkwürdigste, was das Universum zu bieten hat. Zurzeit arbeitet die Zeit buchstäblich für uns.«
Die Flammen waren noch immer still und starr. Tiffany hatte das Gefühl, dass sie kalt sein müssten, aber sie spürte ihre Wärme. Und sie hatte Zeit nachzudenken. »Was ist, wenn ich wieder zurückgehe?«
»Dann ist alles noch genauso wie vorher«, sagte Eskarina, »nur das nicht, was du im Kopf hast – was momentan ungeheuer wichtig ist.«
»Sie haben sich so viele Umstände gemacht, nur um mir zu sagen, dass ich kein Talent für die Hexerei besitze?«, fragte Tiffany spitz. »Wie nett von Ihnen.«
Eskarina lachte, ein seltsam junges Lachen für ein derart faltiges Gesicht. Tiffany war noch nie einem so jung aussehenden alten Menschen begegnet. »Ich habe gesagt, dass dir die Hexenkunst nicht in die Wiege gelegt wurde: Du musstest sie dir erkämpfen! Du hast hart dafür gearbeitet, weil du es unbedingt wolltest. Du hast sie der Welt abgetrotzt, ohne Rücksicht darauf, was es dich kostet. Aber der Preis ist hoch, und das wird er immer sein. Kennst du das Sprichwort: ›Die Belohnung fürs Löchergraben ist eine größere Schaufel?‹«
»Ja«, antwortete Tiffany. »Das hab ich mal von Oma Wetterwachs gehört.«
»Sie hat‘s erfunden. Man sagt, dass man die Hexenkunst nicht findet, sondern von ihr gefunden wird. Aber du hast sie gefunden, obwohl du gar nicht wusstest, was es war. Du hast sie beim Schlafittchen gepackt und für dich nutzbar gemacht.«
»Das ist ja alles höchst … interessant «, sagte Tiffany. »Aber ich bin eine viel beschäftigte Hexe.«
»Nicht im Wandernden Jetzt«, entgegnete Eskarina bestimmt. »Der Tückische hat dich wiedergefunden.«
»Ich glaube, er versteckt sich in Büchern und Bildern«, sagte Tiffany. »Und in Wandbehängen.« Sie schüttelte sich.
»Und Spiegeln«, sagte Eskarina. »Und in Pfützen und im Glitzern einer Glasscherbe oder im Blitzen eines Messers. An so vielen Orten, wie dir einfallen. Wie viel Angst kannst du aushalten?«
»Ich werde mit ihm kämpfen müssen«, sagte Tiffany. »Das ist mir wohl schon von Anfang an klar gewesen. Ich glaube nicht, dass er jemand ist, vor dem man weglaufen kann. Er ist ein Tyrann, nicht wahr? Er greift an, wenn er sich überlegen glaubt, also muss ich irgendwie versuchen, stärker zu sein als er. Mir wird schon etwas einfallen – schließlich hat er ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Schwärmer. Und
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