Das Mitternachtskleid
Protesten der Sau begleitet, zog Preston neben ihr Roland über die Mauer. Was hatten die beiden für ein Glück, dass sie die Stimme nicht hören mussten.
Sie stutzte. Vier Menschen? Die lästige Rivalin? Aber es waren doch nur sie selbst, Preston und Roland hier. Oder etwa nicht?
Sie sah zum anderen Ende des Feldes, das im Mondschatten der Burg lag. Eine weiße Gestalt kam von dort auf sie zugerannt.
Das musste Lätitia sein. So viel wehendes Weiß trug in dieser Gegend sonst keiner. In Tiffanys Kopf spielten sich algebraische Szenen ab. Sie brauchte blitzschnell einen neuen Plan.
»Los, Preston, geh jetzt. Nimm den Besen mit.«
Preston nickte und salutierte verschmitzt. »Zu Ihren Diensten, Fräulein.«
Lätitia erreichte den Stall in heller Aufregung und teuren weißen Pantöffelchen. Als sie Roland erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Er war so weit ausgenüchtert, dass er versuchte, seine Blöße zu bedecken – beziehungsweise seine Größe , wie Tiffany zu bemerken nicht umhinkam. Da er dick mit lehmigem Mist überzogen war, entstand ein matschendes Geräusch dabei.
»Einer von den Jungs hat mir erzählt, dass sie ihn zum Spaß in den Schweinestall geschmissen haben«, sagte Lätitia empört. »Und so was nennt sich Freunde !«
»Ich denke, sie denken, dass man genau dafür Freunde hat«, sagte Tiffany geistesabwesend. Sie dachte: Wird es funktionieren? Habe ich etwas übersehen? Habe ich begriffen, was ich tun muss? Was rede ich da eigentlich, und mit wem? Ich glaube, ich warte auf ein Zeichen. Auf irgendein Zeichen.
Zu ihren Füßen raschelte es. Eine Häsin blickte zu ihr auf und verschwand, ohne in Panik zu geraten, zwischen den Stoppeln.
»Dann nehme ich das mal als ein Ja«, sagte Tiffany, die ihrerseits allmählich sehr wohl in Panik geriet. War das wirklich ein Omen gewesen oder bloß eine alte Häsin, die an Menschen gewöhnt war? Aber es gehörte sich bestimmt nicht, ein zweites Zeichen zu erbitten, nur um sich bestätigen zu lassen, dass das erste kein Zufall gewesen war.
In diesem Augenblick, genau in diesem Augenblick fing Roland an zu singen. Vielleicht lag es am Alkohol, vielleicht aber auch daran, dass Lätitia eifrig an ihm herumwischte – wenn auch mit fest zusammengekniffenen Augen, damit sie als unverheiratete Frau nichts Unschickliches oder Überraschendes zu sehen bekam. Und das Lied, das Roland sang, ging so: »Auf zum Himmel steigt die Lerche, singt ein Lied aus voller Brust; schmetternd klingt es durch die Lüfte und verkündet Freud und Lust!« Er brach ab. »Das hat mein Vater oft gesungen, wenn wir über die Felder gegangen sind … «, sagte er. Er hatte inzwischen das Stadium erreicht, in dem betrunkene Männer zu weinen anfangen. Die Tränen bahnten sich schmale rosa Spuren durch den Dreck auf seinen Wangen.
Aber Tiffany dachte: Danke. Ein Omen ist ein Omen. Man sucht sich das aus, das man gebrauchen kann. Vor ihr lag das große Feld, das letzte Feld, auf dem die Stoppeln noch nicht abgeflämmt waren. Und die Häsin läuft ins Feuer. Ja, ja, die Omen. Wie wichtig sie waren.
»Hört gut zu, alle beide. Ich will keine Widerworte von euch hören, weil du, Roland, sternhagelvoll und du, Lätitia, eine Hexe bist.« Lätitia strahlte. »Allerdings keine ausgebildete. Und deshalb werdet ihr tun, was ich euch sage! Dann kommen wir vielleicht alle lebend wieder zurück auf die Burg.«
Sie merkten auf. Roland schwankte leicht.
»Wenn ich rufe«, fuhr Tiffany fort, »nehmt ihr rechts und links meine Hand und rennt ! Ihr rennt, wenn ich renne, ihr bleibt stehen, wenn, beziehungsweise falls ich stehen bleibe – was ich mir aber kaum vorstellen kann. Und vor allem: Habt keine Angst, und vertraut mir . Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, was ich tue.« Dass dieser Satz nicht gerade ein genialer Mutmacher war, fiel den beiden anderen zum Glück gar nicht auf. »Und wenn ich sage ›springt‹, dann springt ihr, als ob der Teufel hinter euch her wäre – denn er wird euch auf den Fersen sein.«
Plötzlich war der Gestank unerträglich. Der nackte Hass, der daraus hervorquoll, hämmerte auf Tiffanys Verstand ein. Ha!, mir juckt der Daumen schon, sicher naht ein Sündensohn, dachte sie, während sie ins nächtliche Dunkel starrte. Was war denn das für ein Blödsinn? Hu!, wie‘s in der Nase sticht, gleich ist er da, der Bösewicht: Das passte doch schon viel besser. Sie konzentrierte sich auf die ferne Hecke und hielt Ausschau, ob sich dort irgendetwas
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