Das Mitternachtskleid
lag. Der einzige einfache Mensch aus dem Volk, der je ein Grabmal bekommen hatte, war Oma Weh, die in so gut wie jeder Hinsicht etwas Besonderes war. Die Räder und der Kanonenofen aus robustem Eisen, die von ihrer Schäferhütte übrig geblieben waren, würden mit Sicherheit noch weitere hundert Jahre überdauern, und die pausenlos darum herum grasenden Schafe hielten den Boden so glatt wie eine Tischplatte. Außerdem schützte das Wollfett, welches die Schafe beim Schubbern an den Rädern hinterließen, das Metall ebenso gut wie Schmieröl, und das Eisen sah bis heute so blank aus wie an dem Tag, als es gegossen wurde.
In der alten Zeit verbrachte ein Ritter die Nacht vor dem Ritterschlag mit seinen Waffen im großen Saal und betete zu den Göttern, die gerade zuhörten, ihm Kraft und Weisheit zu schenken.
Tiffany war überzeugt, dass sie diese Gebete hören konnte, wenn auch nicht mit den Ohren, so doch in ihrem Kopf. Sie ließ den Blick über die schlafenden Ritter wandern. Vielleicht hatte Frau Prust ja Recht. Vielleicht hatte Stein tatsächlich ein Gedächtnis.
Und was sind meine Waffen?, fragte sie sich. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Stolz. Sicher, es heißt immer, Stolz sei eine Sünde, oder Dummheit und Stolz wüchsen auf einem Holz. Doch das kann nicht wahr sein. Der Schmied ist stolz auf eine akkurate Schweißnaht; der Fuhrmann ist stolz auf seine prächtig gestriegelten Pferde, die wie frische Kastanien in der Sonne glänzen; der Schäfer ist stolz, wenn es ihm gelingt, seine Herde vor dem Wolf zu beschützen; die Köchin ist stolz auf ihre Kuchen. Wir sind stolz, wenn wir aus unserem Leben eine gute Geschichte gemacht haben, eine Geschichte, die es sich zu erzählen lohnt.
Ich habe nicht nur meinen Stolz, ich habe auch Angst – die Angst, andere zu enttäuschen –, und weil ich die Angst habe, werde ich sie besiegen. Ich werde meinen Lehrmeisterinnen keine Schande machen.
Und ich habe Vertrauen, auch wenn ich nicht weiß, worin.
»Stolz, Angst und Vertrauen«, sagte sie laut. Wie vom Wind angefacht, schlugen plötzlich die Flammen der vier Kerzen hoch, und in dem heller aufscheinenden Licht glaubte sie einen Augenblick lang, verschmolzen mit dem dunklen Stein, die Gestalt einer alten Hexe zu erkennen. »Ach ja«, sagte Tiffany, wie hypnotisiert. »Und ich habe das Feuer.«
Ohne recht zu wissen, warum, fügte sie hinzu: »Wenn ich alt bin, trage ich das Mitternachtskleid. Aber heute noch nicht.«
Tiffany hielt die Laterne hoch, und die Schatten bewegten sich. Nur der eine, der so viel Ähnlichkeit mit einer alten, ganz in Schwarz gekleideten Frau hatte, löste sich vollständig auf. Und ich weiß, warum die Häsin ins Feuer springt, und morgen … Nein: heute. Heute werde auch ich hineinspringen. Sie lächelte.
Alle Hexen standen auf der Treppe und beobachteten sie, als sie wieder in den Rittersaal kam. Tiffany war sehr gespannt gewesen, wie Oma Wetterwachs und Frau Prust wohl miteinander auskommen würden. Doch die beiden knorrigen Alten schienen sich ganz gut zu vertragen, zumindest auf der Ebene von: Das-Wetter-war-auch-schon-mal-besser, Die-Jugend-von-heute-hat-einfach-kein-Benehmen-mehr und Die-Käsepreise-sind-ein-Skandal. Nanny Ogg dagegen machte ein ungewohnt besorgtes Gesicht, und das konnte einem richtig Sorgen machen. Es wurde Mitternacht, die Hexenstunde brach an. Obwohl im wahren Leben jede Stunde eine Hexenstunde war, wirkte es schon ein wenig unheimlich, wie die beiden Zeiger der Uhr so senkrecht nach oben deuteten.
»Die jungen Burschen sind vom Junggesellenabschied zurück«, sagte Nanny. »Bloß wissen sie anscheinend nicht mehr, wo sie den Bräutigam gelassen haben. Aber er wird schon nicht verloren gehen. Sie sind sich nämlich einigermaßen sicher, dass sie ihn mit runtergelassenen Hosen irgendwo an irgendwas gefesselt haben.« Sie hüstelte. »So läuft es eigentlich immer ab. Normalerweise soll sich der Trauzeuge die Stelle merken, aber den hat man schon gefunden, und der kann sich noch nicht mal mehr an seinen eigenen Namen erinnern.«
Die Uhr im Saal schlug Mitternacht; sie ging immer nach. Tiffany fuhr jeder Schlag bis ins Mark.
In diesem Augenblick kam Preston auf sie zumarschiert. Und plötzlich hatte sie das Gefühl, dass Preston schon seit einigen Tagen immer da war, wohin sie auch blickte: klug, sauber und – irgendwie – hoffnungsvoll.
»Hör zu, Preston«, sagte sie. »Ich habe keine Zeit für Erklärungen, und ich weiß auch nicht, ob
Weitere Kostenlose Bücher