Das Mitternachtskleid
ihre letzten Kräfte zusammen, aber Tiffany wusste, dass sie nicht mehr lange durchhalten konnten. War das Preston da vorne im Dunkeln? Aber wer war die dunkle Gestalt neben ihm, die aussah wie eine alte Hexe mit spitzem Hut? Tiffany starrte sie verwundert an, da löste sie sich auch schon auf und verschwand.
Plötzlich flammte ein Feuer auf. Knisternd flutete es über das Feld auf sie zu, wie der Sonnenaufgang, und die Funken zauberten zusätzliche Sterne an den Himmel. Der Wind wehte kräftig. Wieder hörte sie die stinkende Stimme: Du wirst brennen! Du wirst brennen!
Böen kamen auf, die Flammen schlugen höher, und eine Feuerwand raste durch die Stoppeln, so schnell wie der Wind. Die Häsin war wieder da. Scheinbar mühelos lief sie neben ihnen her. Sie sah Tiffany an, schlug einmal mit den langen Hinterläufen aus und rannte, rannte direkt auf das Feuer zu.
»Lauft!«, befahl Tiffany. »Das Feuer verbrennt euch nicht, wenn ihr tut, was ich sage. Schneller! Schneller! Roland, lauf, um Lätitia zu retten. Lätitia, lauf, um Roland zu retten. «
Das Feuer hatte sie fast erreicht. Ich brauche die Kraft, dachte sie. Ich brauche die Macht. Und sie erinnerte sich an Nanny Ogg: »Die Welt verändert sich. Die Welt fließt. Darin liegt die Macht, mein Kind.«
Hochzeiten und Beerdigungen sind Zeiten der Macht… jawohl, Hochzeiten.
Tiffany packte die Hände der beiden noch fester. Und schon war sie da, eine knackende, brüllende Flammenwand …
»Springt!«
Während sie sprangen, rief sie: » Spring, Bube. Spring, Dirne. « Und als das Feuer nach ihnen griff, hoben sie ab.
Die Zeit verharrte. Ein Kaninchen huschte unter ihnen hinweg, in heller Angst vor den Flammen. Er wird fliehen, dachte sie. Er wird vor dem Feuer weglaufen, doch es wird ihm folgen. Und das Feuer ist viel, viel schneller als ein halbtoter Körper.
Tiffany schwebte in einem gelben Flammenball. Die Häsin flog an ihr vorbei, glücklich in ihrem Element. Wir sind nicht so schnell wie du, dachte Tiffany. Das Feuer wird uns versengen. Sie blickte nach rechts und links auf Braut und Bräutigam, die wie hypnotisiert ins Leere starrten, und zog sie zu sich. Sie verstand. Ich werde Hand in Hand mit dir durchs Feuer gehen, Roland. Für eure Liebe. Wie ich es gesagt habe.
Sie würde aus diesem Feuer etwas Schönes entstehen lassen.
»Zurück in die Höllen, aus denen du gekommen bist, du Tückischer! «, schrie sie über das Tosen der Flammen hinweg. »Spring, Bube! Spring, Dirne!«, schrie sie noch einmal. »Auf ewig getraut ihr seid!« Das hier ist eine Hochzeit, sagte sie zu sich. Ein Neubeginn. Und für einige wenige Sekunden ist dieser Ort ein Ort der Macht. Jawohl.
Sie landeten hinter der Feuerwand und rollten sich ab. Tiffany stampfte sofort die Glut und die letzten kleinen Flämmchen aus. Und dann war Preston da. Er hob Lätitia hoch und trug sie aus der Asche. Tiffany legte den Arm um Roland, der weich gelandet war (wahrscheinlich auf dem Kopf, dachte Tiffanys fiese Seite), und folgte ihm.
»Offenbar nur leichteste Verbrennungen und angesengte Haare«, sagte Preston. »Und ich glaube, Ihr Exfreund hat jetzt eine festgebackene Lehmkruste. Wie haben Sie das geschafft? «
Tiffany atmete tief durch. »Die Häsin springt so schnell durch das Feuer, dass sie es kaum spürt«, antwortete sie. »Und wenn sie landet, dann meistens schon in der heißen Asche. Ein Grasfeuer brennt nicht lange, wenn ein starker Wind weht.«
Hinter ihnen gellte ein Schrei. Tiffany konnte regelrecht vor sich sehen, wie die ungeschlachte Gestalt vergeblich versuchte, den hungrigen Flammen zu entkommen. Sie spürte die Schmerzen der Kreatur, die sich seit Jahrtausenden zuckend durch die Welt wand.
»Ihr drei bleibt, wo ihr seid. Kommt ja nicht hinter mir her! Preston, du passt auf sie auf!«
Tiffany ging über die erkaltende Asche. Ich muss es sehen, dachte sie. Mit meinen eigenen Augen. Ich muss wissen, was ich getan habe!
Die Kleidung des Toten schwelte noch. Sie fühlte keinen Puls. Er hatte schreckliche Dinge getan: Verbrechen, bei denen sich sogar den Gefängniswärtern der Magen umdrehte. Aber was hatte man ihm vorher angetan? War er einfach nur eine schlimmere Ausgabe von Herrn Micker? Konnte er jemals ein guter Mensch gewesen sein? Wie verändert man die Vergangenheit? Wo nimmt das Böse seinen Anfang?
Wie ein Wurm bohrten sich die Worte in ihren Kopf: Mörderin, Schächerin, Teufelsbrut! Am liebsten hätte sie sich bei ihren Ohren dafür entschuldigt. Aber
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