Das Mitternachtskleid
Katzen, die ihr Geschäft verrichten: aus den Augen, aus dem Sinn, aus der Welt.
Von da an gab es natürlich erst recht kein Halten mehr: So ziemlich jeder hat so ziemlich alles über die Mauer geschmissen und anschließend Fersengeld gegeben, oft genug von Schuhen verfolgt, aber nicht immer mit Erfolg. Möchtest du ein Küchlein? Keine Bange, die habe ich morgen früh bei einem ziemlich zuverlässigen Bäcker gekauft, deshalb weiß ich, dass sie frisch sind, und die Magie hier in meinem Unterschlupf habe ich schon vor einem Jahr gezähmt. Es war nicht allzu schwierig; Magie ist in erster Linie eine Sache des Gleichgewichts, aber das weißt du natürlich. Der langen Rede kurzer Sinn: Über dieser ganzen Gegend liegt ein so dicker magischer Nebel, dass vermutlich nicht mal ein Gott hindurchschauen könnte.« Fräulein Schmied verzehrte anmutig ein halbes Küchlein und balancierte die andere Hälfte auf ihrer Untertasse. Sie beugte sich vor. »Wie hat es sich angefühlt, Fräulein Tiffany Weh, als du den Winter geküsst hast?«
Tiffany starrte sie einen Augenblick sprachlos an. »Es war wirklich bloß ein Küsschen, okay? Ohne Zunge!« Dann fragte sie: »Sie sind also die Person, von der Frau Prust gesagt hat, dass sie mich finden wird, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Fräulein Schmied. »Das dürfte wohl einigermaßen auf der Hand liegen. Ich könnte dir jetzt einen langen, komplizierten Vortrag halten«, fuhr sie unvermittelt fort. »Doch ich glaube, es ist besser, wenn ich dir eine Geschichte erzähle. Oma Wetterwachs, die dich ja ausgebildet hat, würde dir sagen, dass die ganze Welt aus Geschichten besteht. Ich will dir aber nicht verheimlichen, dass diese Geschichte eine von den unschöneren ist.«
»Ich bin schließlich eine Hexe«, sagte Tiffany. »Ich weiß, wie unschöne Sachen aussehen.«
»Wie du meinst«, sagte Fräulein Schmied. »Jedenfalls möchte ich, dass du dir eine Szene vorstellst, die sich vor über tausend Jahren abgespielt hat. Denk dir einen Mann, noch nicht sehr alt. Er ist ein Hexenjäger, ein Bücherverbrenner und ein Folterknecht, weil ihm Leute, die älter und viel verdorbener sind als er, eingeredet haben, dass der große Gott Om genau das von ihm erwartet. An diesem Tag hat er eine Frau zur Strecke gebracht, eine Hexe, und sie ist schön, bewundernswert schön, was ja für eine Hexe ziemlich ungewöhnlich ist, oder zumindest war – «
»Und er verliebt sich in sie, stimmt’s?«, fiel Tiffany ihr ins Wort.
»Natürlich«, sagte Fräulein Schmied. »Mann trifft Frau, eine der wichtigsten Triebkräfte der narrativen Kausalität im Multiversum oder anders ausgedrückt: ›Es kam, wie es kommen musste.‹ Im Übrigen würde ich diesen Diskurs gern ohne weitere Unterbrechungen fortsetzen, wenn das ginge.«
»Aber er muss sie töten, oder?«
Fräulein Schmied seufzte. »Nicht zwangsläufig, nachdem du ja unbedingt vorgreifen musst. Er glaubt, wenn er sie retten kann und es ihnen gelingt, sich bis zum Fluss durchzuschlagen, könnten sie unter Umständen eine Chance haben. Er ist ratlos und verwirrt. Solche Gefühle hat er noch nie zuvor gehabt. Zum allerersten Mal in seinem Leben nimmt ihm keiner das Denken ab. Ganz in der Nähe stehen Pferde. Es gibt nur zwei Wachen und ein paar andere Gefangene. Die Luft ist voller Rauch, weil ein stattlicher Haufen Bücher brennt, und den Menschen tränen die Augen.«
Tiffany rutschte auf ihrem Stuhl nach vorne, um sich nur ja keinen Hinweis entgehen zu lassen, der ihr das Ende im Voraus verraten könnte.
»Seine Lehrjungen sind da und auch einige hohe Würdenträger der omnianischen Kirche, die zuschauen und dem Spektakel ihren Segen geben wollen. Außerdem haben sich noch etliche Leute aus dem Nachbardorf eingefunden, die sehr laut jubeln, weil nicht sie diejenigen sind, die getötet werden sollen, aber auch, weil sie normalerweise nicht allzu viel Abwechslung bekommen. Alles in allem ist es ein ganz normaler Arbeitstag, mit einer Ausnahme: Das Mädchen, das die Lehrjungen auf dem Scheiterhaufen festgebunden haben, hat gemerkt, wie er sie ansieht, und lässt ihn seitdem nicht mehr aus den Augen. Sie sagt kein Wort, sie schreit nicht einmal. Noch nicht.«
»Hat er ein Schwert?«, fragte Tiffany.
»Ja, hat er. Darf ich weitererzählen? Gut. Also, er geht auf sie zu. Sie starrt ihn an, ohne einen Laut von sich zu geben, aber sie beobachtet ihn genau, und er denkt … Was denkt er? Er denkt: ›Ob ich die beiden Wachen allein überwältigen
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