Das Mitternachtskleid
schon gegessen? «
Ich werde mir keine Angst anmerken lassen, dachte Tiffany.
»Das hört man gern«, antwortete Fräulein Schmied. Tiffany schoss wütend von ihrem Stuhl hoch. »Lassen Sie das gefälligst sein!«
»Dabei war ich mir ganz sicher, dass noch eins übrig ist«, sinnierte Fräulein Schmied und fügte hinzu: »So ist’s recht, Fräulein Tiffany Weh. Zeig’s mir ruhig.«
»Immerhin hab ich sogar schon einen Schwärmer besiegt. Ich kann selber auf mich aufpassen.«
»Und auf deine Familie? Und auf alle Menschen, die du kennst? Kannst du sie vor einem Angriff beschützen, auf den sie überhaupt nicht gefasst sind? Versteh doch! Der Tückische ist kein Mensch, auch wenn er früher einer war. Er ist noch nicht mal mehr ein Geist. Er ist eine Idee. Eine Idee, für die leider die Zeit reif war.«
»Na, wenigstens weiß ich immer, wann er in meiner Nähe ist«, sagte Tiffany nachdenklich. »Er stinkt. Noch schlimmer als die Größten.«
Fräulein Schmied nickte. »Ja, es kommt aus seinem Kopf. Das ist der Gestank der Fäulnis – verdorbene Gedanken, verdorbene Taten. Dein Verstand nimmt ihn auf und weiß nicht, was er damit anfangen soll, deshalb heftet er ihn unter Mief ab. Alle magisch Veranlagten können ihn riechen; aber wenn andere Menschen ihm begegnen, verändert er sie. Er verwandelt sie sich ein wenig. Deshalb folgt ihm das Unheil auf Schritt und Tritt.«
Und Tiffany wusste ganz genau, von welchem Unheil sie sprach, auch wenn ihre Erinnerung sie in eine Zeit zurückkatapultierte, bevor der Tückische wieder erwacht war.
Vor ihrem inneren Auge sah sie schwarz geränderte Schnipsel, verweht vom Herbstwind, dessen verzweifeltes Seufzen an ihr inneres Ohr drang. Und am schlimmsten, ja, am allerschlimmsten war der säuerlich scharfe Gestank nach altem, verbranntem Papier, den ihre innere Nase auffing. In ihrer Erinnerung flatterten einige dieser Schnipsel wie halb totgeschlagene Motten.
Und auf ihnen waren Sterne.
Die Menschen waren zur Katzenmusik marschiert und hatten sie erbarmungslos aus dem Haus gezerrt, die verwirrte alte Frau, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie keine Zähne mehr hatte und nach Urin roch. Sie hatten Steine geworfen, sie hatten Scheiben eingeschlagen, sie hatten die Katze getötet, und trotzdem waren die Täter im Grunde gute Menschen, nette Menschen, Menschen, die sie kannte und jeden Tag sah. Und sie redeten bis heute nicht darüber. Als hätte es das alles nie gegeben. Aber an jenem Tag, die Tasche vollgestopft mit angekohlten Sternen, war Tiffany – ohne zu wissen, was sie tat, aber fest entschlossen, es trotzdem zu tun – eine Hexe geworden.
»Sie sagen, andere hätten ihn bereits besiegt?«, fragte sie Fräulein Schmied. »Wie haben sie das geschafft?«
»Das letzte Küchlein war noch in der Tüte vom Bäcker, ganz bestimmt. Du sitzt doch nicht etwa darauf?« Fräulein Schmied räusperte sich. »Weil sie sehr mächtige Hexen waren, die wussten, was es heißt, eine mächtige Hexe zu sein, und weil sie kein Risiko gescheut und keine List ausgelassen haben, und vermutlich auch, weil sie den Tückischen schneller ausrechnen konnten als er sie. Ich musste lange durch die Zeit reisen, bis ich mir ein Bild von ihm machen konnte«, fügte sie hinzu. »Aber das Einzige, was ich dir mit Sicherheit sagen kann, ist, dass man dem Tückischen nur mit List und Tücke beikommt. Du musst listiger sein als er.«
»Besonders listig scheint er mir aber nicht zu sein, wenn er so lange gebraucht hat, um mich zu finden«, sagte Tiffany.
»Ja, und das gibt mir zu denken«, antwortete Fräulein Schmied. »Dir sollte es ebenfalls zu denken geben. Ich hätte erwartet, dass es sehr lange dauert. Auf jeden Fall länger als zwei Jahre. Entweder hat er sich überaus schlau angestellt – was allerdings, da er kein Oberstübchen hat, nicht sehr wahrscheinlich ist –, oder er ist durch etwas anderes auf dich aufmerksam geworden. Durch etwas Magisches, würde ich annehmen. Kennst du irgendwelche Hexen, die dir nicht wohlgesonnen sind?«
»Nicht eine«, sagte Tiffany. »Von den Hexen, die ihn erfolgreich bekämpft haben, leben da noch welche?«
»Ja.«
» Vielleicht … falls ich welche finde … könnten sie mir verraten, wie sie es gemacht haben.«
»Wie oft soll ich es noch sagen? Er ist der Tückische. Wieso sollte er zweimal auf den gleichen Trick hereinfallen? Du musst deinen eigenen Weg finden. Das ist das Mindeste, was diejenigen, die dich ausgebildet haben, von dir
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