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Das Mitternachtskleid

Das Mitternachtskleid

Titel: Das Mitternachtskleid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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kann? Ob die Lehrjungen meinen Befehlen folgen?‹ Und während er immer näher auf sie zugeht, fragt er sich, ob sie es bei dem vielen Qualm wohl bis zu den Pferden schaffen können. Und das ist der Moment, der auf ewig in der Zeit festgehalten sein wird. Ungeheure Ereignisse harren seiner Entscheidung. Eine einfache Tat, so oder so, und die Geschichte wird eine andere sein. Und du denkst, es kommt ganz darauf an, was er als Nächstes tut. Dabei spielt es überhaupt keine Rolle, was er denkt, denn die Frau weiß, wer er ist und was er getan hat, sie weiß von seinen Untaten, für die er berühmt und berüchtigt ist, und während er, noch immer hin- und hergerissen, auf sie zugeht, sieht sie nur den schlechten Menschen in ihm, der er nicht mehr sein möchte. Blitzschnell streckt sie beide Hände durch das Weidengeflecht, das man um sie herum errichtet hat, damit sie aufrecht stehen bleibt, und packt ihn und hält ihn fest, als die Fackel auf das ölgetränkte Holz fällt und die Flammen in die Höhe schießen. Sie nimmt die Augen nicht mehr von ihm, und sie lässt ihn nicht mehr los … Möchtest du noch eine Tasse Tee?«
    Tiffany blinzelte den Qualm, die Flammen, den Schock weg. »Bitte«, sagte sie. »Woher wissen Sie das alles?«
    »Ich war da.«
    »Vor tausend Jahren?«
    »Ja.«
    »Wie sind Sie dahin gekommen?«
    »Zu Fuß«, sagte Fräulein Schmied. »Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass jener Tag den Tod des Wesens sah, das wir den Tückischen nennen. Und seine Geburt. Anfangs war er noch ein Mensch, wenn auch natürlich furchtbar entstellt. Für lange Jahre. Und die Jagd auf Hexen ging weiter – und wie. Schlimmer als zuvor. Schwer zu sagen, wen die anderen Hexenjäger mehr fürchteten: die Hexen oder den Zorn des Tückischen, falls sie nicht so viele Opfer aufspürten, wie er verlangte. Und glaub mir, wenn dir der Tückische im Nacken sitzt, findest du so viele Hexen, wie er haben will. Oh ja.
    Der Tückische selbst fand immer welche. Schon erstaunlich. Da gab es irgendwo ein kleines verschlafenes Dorf, wo die Leute halbwegs gut miteinander auskamen, und keiner von ihnen hatte jemals irgendwelche Hexen bemerkt. Bis der Tückische auf der Bildfläche erschien. Plötzlich gab es überall Hexen, aber leider nicht mehr lange. Er war davon überzeugt, Hexen seien der Grund allen und jeden Übels. Dass sie kleine Kinder raubten, dass sie dafür verantwortlich waren, wenn den Männern die Frauen wegliefen, oder dafür, dass die Milch sauer wurde. Ich glaube, am besten gefällt mir die Vorstellung, dass Hexen in Eierschalen aufs Meer hinausfuhren, um ehrbare Matrosen zu ertränken.« Sie hob die Hand. »Nein, sag jetzt nicht, dass sich selbst das kleinste Hexchen nicht in eine Eierschale setzen könnte, ohne sie zu zerdrücken, denn das wäre, wie wir vom Fach es nennen, ein logisches Argument. Keiner, der glauben will, dass Hexen Schiffe versenken, würde darauf hören.
    So konnte es natürlich nicht weitergehen. Der Mensch kann sehr dumm sein, und er lässt sich allzu leicht in Angst und Schrecken versetzen, aber manchmal finden sich auch Leute, die nicht ganz so dumm und nicht ganz so ängstlich sind, und dann wird der Tückische aus der Welt hinausgeworfen. Er landet auf dem Müll, wo er hingehört.
    Doch das war nicht sein Ende. So groß, so fürchterlich war sein Hass auf alles, was in seinen Augen mit Hexerei zu tun hatte, dass er es irgendwie schaffte weiterzuexistieren, wenn auch zuletzt ohne Körper. Er hatte keine Haut mehr und keine Knochen, aber sein Zorn war so mächtig, dass er trotzdem weiterlebte. Als Geist, vielleicht. Und bisweilen findet er jemanden, der ihn wieder hereinlässt. Es gibt einfach immer genug Menschen da draußen, deren Verstand so vergiftet ist, dass sie sich ihm öffnen. Und dann gibt es noch die Menschen, die sich lieber hinter dem Bösen verstecken, als ihm entgegenzutreten. Einer von denen schrieb für ihn ein Buch mit dem Titel »Fegefeuer für Hexen«.
    Aber wenn er einen Körper übernimmt – und glaub mir, es hat in der Vergangenheit so einige unangenehme Zeitgenossen gegeben, die sich einbildeten, ihre eigenen schrecklichen Ziele leichter verwirklichen zu können, indem sie ihm erlaubten, in sie hineinzuschlüpfen –, dann muss der Besitzer dieses Körpers schon bald feststellen, dass er keinerlei Kontrolle mehr über ihn hat. Der Tückische wird zu einem Teil von ihm. Und erst wenn es zu spät ist, erkennt er, dass es kein Entrinnen, keine Erlösung gibt.

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