Das mittlere Zimmer
etwas zum Anziehen aus dem Schrank zu suchen. Als sie die beiden Betten sah, die niemand gemacht hatte, und die in Eile aufs Bett geworf enen Schlafanzüge, da schlich sich ein großer, grässlicher Schmerz näher. Und als sie sich vorstellte, wie Achim an einem Samstagmorgen vor mehr als drei Monaten bei ihren Eltern angerufen und sie mit einer dreisten Lüge in Todesangst versetzt und zu sich gelockt hatte, mischte sich ein verschwommenes Entsetzen unter den Schmerz.
Doch plötzlich dachte sie an Johann, der ihre Eltern hätte retten können, und der sie hatte ve rrecken lassen aus Gründen, die kein normaler Mensch mehr nachvollziehen konnte, und ein brennender, wahnsinniger Hass füllte ihr Herz und ihren Verstand aus, an dem Schmerz und Entsetzen einfach abprallten.
Rike riss mit zusammengekniffenen Lippen die Kleiderschranktüren auf und probierte ve rschiedene Hosen, Pullover und Schuhe an. Da ihre Mutter einen Kopf kleiner und nur halb so breit wie sie selbst gewesen war, passte Rike so gut wie nichts von ihr.
Also stieg sie in eine ausgewaschene Jeans ihres Vaters, krempelte sie unten um und hielt sie mit einem Gürtel auf ihren Hüften fest. Des Weiteren nahm sie eins se iner blauen Hemden, zog zwei Paar Socken übereinander und passte damit halbwegs in seine braunen Schnürschuhe. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein Obdachloser auf Alkohol. Sie vermied es, in irgendeinen Spiegel zu sehen, holte sich aus der Küche eine Flasche Mineralwasser und stellte sich damit ans Wohnzimmerfenster, um die Straße zu überwachen.
Was würde sie tun, wenn Johann auftauchte? Davonlaufen? Versuchen, ihn umz ubringen? Vielleicht sollte sie sich vorsorglich bewaffnen. Ein zweites Mal ging sie in die Küche, riss alle Schubläden auf, nahm das größte und schärfste Messer heraus, das sie finden konnte, und stellte sich, das Messer in der einen, die Flasche in der anderen Hand, zurück ans Fenster.
Und was würde sie tun, wenn Johann nicht auftauchte? Sie musste unbedingt über eine Str ategie nachdenken, jetzt, wo der Kampf offiziell eröffnet war. Die Situation vorhin hätte nicht passieren dürfen. Dass Johann einfach so mit dem Fön vor der Wanne stand ... so etwas hätte sie voraussehen müssen! Gott, diese Ohnmacht, diese Panik, und plötzlich diese Idee! Nie und nimmer wäre sie von selbst darauf gekommen, Johanns Plan auf derart simple Weise zu vereiteln! Mit ein bisschen Wasser! Die Macht, die hinter ihr stand, die Macht, die Gerechtigkeit wollte, hatte ihr diesen Einfall eingegeben! Und dass Johann auf den Fliesen ausgerutscht und gestürzt war, konnte auch kein Zufall gewesen sein! Jetzt brauchte sie nur noch die richtige Taktik, um -
Plötzlich hörte sie Geräusche an der Wohnungstür. Verflucht noch mal, hatte Johann von der Tür auch einen Zweitschlüssel anfertigen lassen?! Warum hatte sie die Kette nicht vorg elegt?! Was sollte sie tun?!
Einen Moment stellte sie sich vor, wie sie mit dem Messer auf Johann losging. Aber eigen tlich traute sie sich nicht zu, ihn damit auf Anhieb unschädlich zu machen. Nein, überhaupt nicht. Also duckte sie sich blitzschnell hinter den breiten, dunkelrot gemusterten Sessel, der keinen Meter von ihr entfernt stand, hielt die Luft an, lauschte und stellte vorsichtig die Wasserflasche neben sich ab.
Jemand betrat die Diele, schloss die Tür, schlich aufs Wohnzimmer z u. Und wenn das gar nicht Johann war? Ganz langsam bewegte sie ihren Kopf seitwärts und lugte um die Sesselkante herum. Es war Johann, der gerade in der Tür auftauchte. In seiner schwarzen Jeans und einem schwarzen Hemd. Er hatte sich wohl die nassen Sachen ausgezogen. Und wenn er nicht gerade in eine andere Richtung geschaut hätte, hätte er sie bemerkt.
Sein Gesichtsausdruck war angespannt, er hatte begriffen, dass er Rike nicht u nterschätzen durfte. Und so hatte sie erwartet, dass er mindestens mit einem Gewehr bewaffnet oder mit seiner Lieblingsaxt anrücken würde.
Aber er hatte etwas anderes in der Hand. E inen Strick.
Rike sah die Schlagzeile der morgigen Tageszeitung vor sich: Psychisch kranke Ehefrau eines bekannten Tierarztes erhängt sich in der Wohnung ihrer toten Eltern!
Sie hörte, wie Johann sich näherte, umklammerte das Messer mit beiden Händen und hob es ein wenig an. Er würde damit durchkommen! Wieder einmal! Das machte sie so wütend, dass sie beinah versucht hätte, ihm das Messer in den Bauch zu rammen.
Aber nur beinah. Sie wartete ab. Er kam
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