Das mittlere Zimmer
herumwühlte.
Rike öffnete den Mund, um einen schärferen Ton anzuschlagen, als in ihren Ohren ein kre ischendes Rauschen anschwoll, ein Geräusch, als laufe sie einem startenden Düsenjet entgegen, dann warf sich ihr von oben ein weißlicher Vorhang vor die Augen, ein blauer Blitz jagte durch ihr Bewusstsein, und weg war sie.
Von einer Sekunde zur nächsten hatte sie ein Bild vor Augen: Hannah, die sich über ihre Spielzeugkiste gebeugt hatte, eine Hand auf der Kante. Im selben Moment verlor sie das Gleichgewicht, kippte vornüber und schlug mit dem Gesicht auf die gegenüber liegende Kante der Kiste. Gewaltiges Gebrüll.
Rike sprang auf die Füße und nahm Hannah auf den Arm. Blut lief über ihr Kinn. Aber ihre Zähne schienen noch vollzählig zu sein. Rike zerrte ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte vorsichtig das Blut ab, während Hannah laut wimmernd den Kopf wegzudrehen versuchte. Ihre Unterlippe war aufgeplatzt, sonst war nichts passiert.
„Ach Prinzesschen, ich weiß ja, dass das wehtut, aber das wird auch ganz schnell wieder heil, glaub mir.“
Sie setzte sich mit Hannah aufs Bett, drückte sie an sich, wiegte sie ein wenig hin und her und sprach beruhigend auf sie ein. Jetzt erst registrierte sie bewusst, dass durch das Dachfenster die Sonne schien. Und jetzt erst hörte sie das Rufen von unten.
„Rike! Hannah! Wo seid ihr?“ , rief es von unten. Mit einer Stimme, die fassungslos und nah an der Panik war. Sollte das Achims Stimme sein?
Rike stand auf und ging mit Hannah auf dem Arm in den Flur auf die Treppe zu. Hannah lutschte inzwischen, ab und zu aufschluchzend, eifrig am Daumen.
„Wir sind hier oben! Achim, bist du das?“ Rike betrat die Treppe und erwartete, dass Achim ihr jeden Moment entgegenkommen würde. Aber als sie um die Ecke bog, sah sie ihn unten durch den Flur von der Küche ins Wohnzimmer marschieren.
„Wie viel Uhr ist es?“ , murmelte er. „Welcher Tag?“
Rike eilte die Treppe hinunter und ihm hinterher. Ihr Herz klopfte schneller. Wie viel Zeit war diesmal vergangen?! Achim stand vor der Pendeluhr und sah sie an, als seien ihr Arme und Beine gewachsen. Sie zeigte auf 14.33 Uhr.
„Welcher Tag? Welcher Tag?“ , murmelte Achim wieder, und Rike fand, dass das eine berechtigte Frage war. Er drehte sich um, und sein Blick glitt über seine Frau und seine Tochter hinweg, als seien sie unsichtbar. Er griff mit der rechten Hand, die stark zitterte, zur Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und suchte den Sender mit dem kompletten Datum.
Es war Sonntag, der 2. Mai. Immerhin das gleiche Jahr. Fünf Tage. Fünf Tage feh lten. Mehr als eine halbe Woche war weg.
Rike stellte sich mit Hannah an die breite Terrassentür und blickte in den Garten. Sie fühlte sich hilflos und irgendwie ausgelaugt. Wann mochte es Achim erwischt haben? Als er am Mittwochabend nach Hause kam? War er ins Zeitloch gefallen, kaum dass er den Schlüssel ins Haustürschloss gesteckt hatte? Sie hätte ihn gerne danach gefragt. Aber das ging nicht.
Plötzlich lief Achim aus dem Zimmer. Hannah lutschte geräuschvoll am Daumen. Die Sonne schien auf die noch nicht fertige Terrasse. Rike hatte das Gefühl zu ersticken. Sie war in e inem Alptraum gefangen. Oder in einer anderen Wirklichkeit. Oder in einem anderen Leben. Das war nicht ihr normales, unkompliziertes Leben. Das, was hier passierte, war einfach unmöglich!
Kurz bevor der Fluchtreflex einsetzte, überkam sie eine leichte Benommenheit. Rike seufzte einmal tief und hörbar auf. Wenn sie nur geduldig abwartete, dann würde sie (das war plötzlich völlig klar) mit einer inneren Ruhe und Glückseligkeit belohnt werden, wie sie noch keine Kreatur in diesem Teil des Universums erlebt hatte. Versonnen lächelte sie die alte Kastanie an, die in den letzten Tagen eine Menge Blätter entrollt hatte. Auch wenn jetzt noch vieles dagegen sprach - alles würde gut werden.
Hannahs Kopf war gegen ihre Schulter gefallen, ihr Daumen aus dem Mund g erutscht. Sie hielt ihren Mittagsschlaf. Rike legte ihre Tochter im Wohnzimmer aufs Sofa und deckte sie zu, als das Telefon klingelte. Glücklicherweise wurde Hannah nicht wach, selbst dann nicht, als ihr Vater ins Zimmer stürmte und das Telefon an sich riss.
Ob wohl er mit dem Apparat am Ohr in den Flur ging, bekam Rike mit, wie er mit einem seiner Angestellten sprach und ihm seine erneute, mehrtägige, unangekündigte Abwesenheit zu erklären versuchte. Er stammelte etwas von ,Tochter, Krankenhaus
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