Das mittlere Zimmer
zunehmend peinlich, dass sie im Zimmer war. Sie hatte kein Recht, dabei zu sein, wenn ein ihr völlig fremder Mensch über den Tod der eigenen Frau informiert wurde. Sie überlegte eben, wie sie sich am besten aus der Affäre zog, als Wolter aufstand und meinte: „Nein, ich komme später nach, ich muss jetzt erst mal ...“ Er brach ab, wandte sich Rike zu und bat sie: „Es wär schön, wenn Sie noch ein paar Minuten bleiben könnten.“
Der Blick, mit dem er das sagte, jagte ihr die nächste Gänsehaut über den Rücken. Denn in die maßlose Traurigkeit, mit der er sie ansah, mischte sich eine Zärtlichkeit, die Rike in di esem Moment weder verstehen noch ertragen konnte. Sie stand ebenfalls auf.
„Hannah sitzt draußen im Wagen, und ich möchte nicht, dass sie von all dem hier was mitb ekommt.“
Der Ausdruck in seinen Bernsteinaugen wurde eine Spur flehentlicher, was Rike in tiefster Seele unerwartet und seltsam berührte. Sie wich seinem Blick aus und erklä rte: „Ich wollte Hannah sowieso zu meiner Mutter bringen. Das mache ich jetzt, und dann komme ich zurück. Dauert keine Viertelstunde, ok?“
Sie verließ das Wartezimmer, ohne sich umzusehen, und hörte den Notarzt sagen: „Setzen Sie sich mal wieder hin, Dr. Wolter, Sie sind ja ganz weiß um die Nase! Ich gebe Ihnen was für den Kreislauf. Wollen Sie auch was zur Beruhigung?“
Rike lief nach draußen, versuchte den großen, roten Rettungswagen (in dem jetzt Frau Wolters Leiche lag!) zu ignorieren, was unmöglich war, stieg in ihr Auto und erzählte Hannah, dass Frau Wolter schwer krank sei und dass man sie deshalb jetzt nicht stören dürfe.
Hannah nörgelte ein bisschen herum, weil sie doch die Tiere streicheln wollte, aber als sie bald darauf von ihrer Oma in Empfang genommen wurde, war ihre schlechte Laune vorerst vergessen. Rike verabschiedete sich zwei Minuten später und erzählte ihrer Mutter, sie brauche ein paar Stunden Abstand von allem und würde vielleicht einen langen Waldspaziergang oder einen entspannten Schaufensterbummel machen.
Als sie zum zweiten Mal an diesem Tag in Wolters Einfahrt einbog, sah sie, dass Kranken- und Notarztwagen verschwunden waren, und die Haustür geschlossen und mit einem weißen Blatt Papier versehen war. Rike stieg aus und las, was auf dem Papier stand: ,Wegen Todesfall bleibt die Praxis heute geschlossen‘.
Der arme Mann. Sollte sie ihn überhaupt stören? Dann dachte sie an seinen Blick, und schon drückte ihr Finger auf den Klingelknopf. Wolter öffnete die Tür so schnell, als hätte er auf Rike gewartet. Sein Blick war tieftraurig, und er sagte mit warmer Stimme: „Da nke, dass Sie zurückgekommen sind.“
Und bevor Rike etwas dagegen tun konnte, umarmte und drückte er sie. Im ersten Moment schaltete alles in ihr auf Abwehr. Sie rührte sich nicht, ihre Nacke nmuskeln verspannten sich, sie konnte nicht einmal mit Worten protestieren. Er war höchstens einen halben Kopf größer als sie, und jetzt sank sein bärtiges Kinn schwer auf ihre Schulter, und sie atmete widerwillig den Geruch nach Bauernhof und Viehwirtschaft ein, der sich in Wolters Kleidern und Haaren festgesetzt hatte. Noch immer drückte er sie, als hinge sein Leben davon ab.
Da er aber sonst nichts tat, entspannte sich Rike allmählich ... ja, sie begann die Uma rmung sogar zu genießen, denn Zuwendung jeglicher Art hatte sie in letzter Zeit ziemlich vermisst. Als sie dem Doktor ein paar Mal tröstend den Rücken tätschelte, ließ er sie plötzlich los und fragte mit traurigem Gesicht: „Kommen Sie mit nach oben in die Küche? Ich hab uns einen Kaffee gemacht.“
Rike nickte, und er ging voran und stieg die Treppen hinauf, anfangs zügig, dann jedoch lan gsamer, je höher er kam. Aber außer Puste wirkte er nicht.
Die gemütliche Küche, die Rike ja schon kannte, war in Blau und Weiß eingerichtet: weiße Einbauschränke, blaue Kissen auf den weißen Stühlen, ein blaues Tischtuch auf dem weißen Tisch, darauf zwei blaue Tassen. Wolter zog seine Jacke aus, unter der ein alter dunkelblauer Rollkragenpullover zum Vorschein kam, hängte sie über eine Stuhllehne und schenkte Kaffee ein, während Rike sich setzte. Sollte sie ihn direkt auf das Unglück ansprechen? Es gab Menschen, die unbedingt über das Geschehene reden wollten. Wieder und immer wieder.
Als er saß, fragte sie ihn einfach. „Möchten Sie mir erzählen, wie es passiert ist? Wie kann ein a lter, kranker Hund ihre Frau so schwer verletzen?“
Wolter trank
Weitere Kostenlose Bücher