Das mittlere Zimmer
entscheiden.
Auf jeden Fall hatte Rike am Donnerstagvormittag das dringende Bedürfnis nach e iner Pause. Einer Pause von allem, von Hannah, von Achim, vom Haus. Sie rief ihre Mutter an und fragte, ob sie Hannah vorbeibringen dürfe.
Gegen zehn Uhr machte sich Rike auf den Weg zu ihrer Mutter. Als sie an der Einfahrt zum Grundstück der Wo lters vorbeikam, warf sie automatisch einen Blick zu dem alten Haus mit den blauen Fensterläden hinüber. Vor dem Haus standen ein Rettungswagen und ein Notarztwagen.
Rike bremste so plötzlich ab, dass die Reifen quietschten, und der Wagen hinter ihr Mühe ha tte auszuweichen. Als der Fahrer, ein älterer Mann mit Hut, sie überholte, drückte er ein paar Mal auf die Hupe und tippte sich mehrmals mit dem Finger an die Stirn. Rike wendete, fuhr zurück, bog in Wolters Einfahrt ein und stellte den Wagen rechts auf dem Parkplatz ab.
„Prinzesschen, bleib bitte einen Moment hier, ja? Ich muss den Doktor nur was fr agen, ich bin sofort zurück!“
„Katze streicheln “, nörgelte Hannah und machte Anstalten, sich vom Kindersitz loszuschnallen.
„Jetzt pass mal gut auf, mein Fräulein“ , begann Rike und hörte die Wut in ihrer Stimme. Hannah hörte sie auch. „Du bleibst hier sitzen, bis ich zurückkomme! Und wenn du es wagen solltest, aus dem Auto zu klettern, kannst du was erleben!“
Hannah sah sie mit großen Augen an, fing aber nicht an zu weinen. Rike schloss den Wagen ab und eilte mit wild klopfendem Herzen auf das Haus zu. So wütend wie gerade eben war sie selten gewesen. Und gleichzeitig so besorgt. Sie machte sich schwere Sorgen um den Doktor. Männer in seinem Alter wurden gern vom Herzinfarkt dahingerafft.
Als sie am Rettungswagen vorbeikam, sah sie mehrere Leute hektisch darin heru mhantieren. Die Haustür stand offen. Rike klopfte trotzdem gegen das Holz und rief zaghaft: „Hallo?“
Keine Antwort. Dann entdeckte sie die frischen Bluttropfen auf den hellen Fliesen im Flur. Um Himmelswillen, was war hier passiert?! Zögerlich machte sie ein paar Schritte in den Flur hinein und warf einen Blick durch die offen stehende Tür ins Wartezimmer. Dort saß auf einem blauen Plastikstuhl Dr. Wolter, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen.
„Darf ich reinkommen?“ , fragte sie leise, fast scheu.
Der Doktor hob den Kopf. Er hatte seine Brille abgenommen und auf dem Tischchen mit den Zeitschriften abgelegt. Er sah anders aus ohne Brille. Aber vielleicht lag es da ran, dass seine Augen weit aufgerissen waren vor Entsetzen. Er nickte kurz, und so setzte sich Rike auf den übernächsten Stuhl neben ihn.
„Was ist passiert?“ , flüsterte sie.
Er hatte sie die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen und s chaute sie an, als sei sie eine Vision. Doch plötzlich senkte er den Blick und murmelte: „Der Hund ... es war der Hund. Er hat Helga angefallen.“
„Der Hund hat Ihre Frau verletzt?“
„Er hat sich in ihrer Kehle verbissen ... Gott, sie hat so viel Blut verloren! Ich war doch nicht da! Als ich zurückkam, lag sie vor dem Hundekäfig, und das Blut spritzte nur so aus ihrem Hals heraus.“ Wolter schlug wieder die Hände vors Gesicht.
Für ein paar Sekunden war Rike sprachlos. Sie wollte sich die Szene nicht vorstellen, aber ihre Phantasie war schneller. Der große Hund, die riesigen, gelblichen Zähne in Frau Wolters Kehle. Rike versuchte, das Bild beiseite zu drängen und etwas Beruh igendes zu sagen. „Das war sicher furchtbar, aber Ihre Frau ist ja jetzt in guten Händen.“
Doch Wolter nuschelte zwischen seinen Fingern hervor: „Der Arzt hat gesagt ... er ... er sa gte, er glaubt nicht, dass sie es schafft.“
Rike rieselte eine Gänsehaut über den Körper. Tränen stiegen in ihre Augen. Am liebsten hä tte sie den Doktor in den Arm genommen und getröstet. Doch bevor sie dem Gedanken eine Tat folgen lassen konnte, hörte sie Schritte im Flur, und ein ganz in Weiß gekleideter Mann erschien im Türrahmen. Der Notarzt. Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.
Er ging nah an Wolter heran, beugte sich zu ihm herunter, legte ihm eine Hand auf die Schu lter und sagte leise: „Es tut mir leid, Dr. Wolter, wir konnten Ihrer Frau nicht mehr helfen, sie hatte schon zu viel Blut verloren. Wir fahren jetzt zurück, kommen Sie mit?“
Der Doktor nahm die Hände vom Gesicht und setzte sich die altmodische Riesenbri lle wieder auf die Nase. Er bemühte sich, einen gefassten Eindruck zu machen. Rike war es
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