Das mittlere Zimmer
länger geworden, folgten aber anscheinend keiner auf den ersten Blick erkennbaren mathematischen Regel. Jedenfalls keiner für sie erkennbaren. Vielleicht sollte sie alle Zeitabschnitte in Stunden oder sogar Minuten umrechnen und dann nach Regelmäßigkeiten suchen.
Rike fuhr heim zu Johann, und den Nachmittag verbrachten sie im Freibad. Johann machte ihr ein Kompliment nach dem and eren über ihren tief ausgeschnittenen Badeanzug, aber Rike fand sich viel zu pummelig. Ab und zu, wenn Johann mit geschlossenen Augen in der Sonne lag, betrachtete sie heimlich seine Narbe, diesen blassen, fast einen Zentimeter breiten Streifen, der schräg über die Vorderseite seines linken Oberschenkels verlief, von außen über dem Knie bis nach innen in den Schritt seiner dunkelblauen Badehose. Die Geschichte dieser Narbe kannte sie nicht, und aus irgendeinem Grund traute sie sich nicht, danach zu fragen.
Gegen Abend fuhren sie nach Hause. Als Johann Rike auf dem Sofa beim Fernsehen in den Arm nahm und anfing, ihren Hals zu küssen, hielt sie die Zeit für gekommen, harmlos und unschuldig eine Frage zu stellen: „Willst du mir nicht endlich mal dein Schlafzimmer und dein Bett zeigen?“
Johann ließ sie sofort los. Man merkte ihm för mlich an, wie er innerlich Türen schloss, und dann meinte er reserviert: „Ich weiß, dass das, was ich jetzt sage, schwer zu verstehen ist, aber ich brauche ein Zimmer für mich allein, einen unantastbaren Privatraum für meine allerheiligste Intimsphäre sozusagen. Ich seh es dir an der Nasenspitze an, dass du das nicht verstehst. Aber es hat nichts mit dir zu tun, und ich bitte dich, es einfach zu respektieren.“
Rike fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. In so einem Ton hatte er noch nie mit ihr ger edet. Sie schluckte und versuchte zu verdauen, was er gerade gesagt hatte. Dabei kam ihr ein anderer Gedanke. „Soll das heißen, dass auch deine verstorbene Helga nie in dem Zimmer geschlafen hat?“
„Ja, genau das heißt es!“
„Wie lange warst du noch mal mit ihr verheiratet?“
„Neun Jahre.“
„Und du willst mir erzählen, dass sie in der ganzen Zeit nie einen Fuß in dein Schlafzimmer gesetzt hat?!“
Johann musterte sie, als wolle er abschätzen, ob dieses Gespräch überhaupt noch einen Sinn hatte. Er räusperte sich und sah zum Fenster, hinter dessen Scheiben sich allmählich die Dämmerung vertiefte. „Nein, natürlich nicht. Nach ein paar Jahren durfte sie ab und zu dort pu tzen und die Bettwäsche wechseln.“
Rike war sprachlos. In was war sie denn hier hineingeraten? Natürlich kaufte sie ihm die abenteuerliche Erklärung nicht ab - er hatte etwas zu verbergen, da war sie s icher!
Aber sagen sollte sie ihm das jetzt nicht. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Es fällt mir tatsächlich schwer, das zu verstehen. Aber ich hab davon gehört, dass Menschen im A lter die absonderlichsten Eigenheiten entwickeln. Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als deinen Wunsch zu respektieren.“
Jetzt schluckte Johann einmal, und Rike dachte für einen Moment, die Beziehung sei damit beendet (was sie erschreckte), aber dann wandte er sich ihr mit einem liebevo llen Lächeln zu und meinte: „Du hast Recht, ich bin ein alter Eigenbrötler, der eine so schöne, junge, leidenschaftliche Frau wie dich gar nicht verdient hat. Machen wir trotzdem da weiter, wo wir vorhin aufgehört haben?“
Rike nickte und seufzte: „Ich bin so froh, dass du mir über diese schreckliche Zeit hinwe ghilfst.“
Johann schloss sie wieder in seine Arme. „Für das, was du durchgemacht hast, hältst du dich sehr tapfer.“
Wie meinte er das? War er etwa misstrauisch geworden?! „Ohne die Tabletten wär das anders“, sagte sie schnell.
„Du hast wirklich Glück mit den Tabletten, die scheinen ja bei dir so gut wie keine Nebenwirkungen zu haben.“
Das klang ja fast, als ahne er, dass sie keine Tabletten nahm!
„Ja, die sind toll“, behauptete Rike und gab ihm einen langen Kuss. Sie sollte nicht vergessen, dass auch sie etwas zu verbergen hatte. Das Beste war, all die gefährlichen Themen nicht mehr anzusprechen.
Am Sonntagabend begleitete Rike Johann zu seinem wöchentlichen Squash-Termin mit Jörg Spitz, dem Leiter der städtischen Sparkasse, der schlank und einen Kopf gr ößer als Johann war. Rike sah den beiden bei ihrem schnellen, schweißtreibenden Spiel zu und trank entspannt einen vitaminstrotzenden Fitnesssaft.
Johanns Bewegungen waren erstaunlich geschmeidig und
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