Das mittlere Zimmer
Rike ihm und sich den schönen Abend nicht verderben wollte, bohrte sie nicht weiter nach und plauderte noch ein Weilchen über ihre Erlebnisse als Lehrerin.
Den Samstag und den Sonntag verbrachten sie mit Einkaufen, Essen, Waldspaziergängen, und in Rikes Eichenbett. Nach einer besonders leidenschaftlichen Stunde am Sonntagnachmittag senkte Johann den Blick seiner Bernsteinaugen tief in Rikes Augen, und sie hörte ihn mit warmer Stimme sagen: „Ach Rike, ich liebe dich so sehr.“
Das verschlug ihr vor Rührung die Sprache, und sie antwortete ihm mit einem langen Kuss.
Am Abend war es Zeit, ins Krankenhaus zurückzukehren, und nach den ganzen Aufregungen des Wochenendes tat ihr die Ruhe in ihrem Krankenzimmer überraschend gut.
Und wie sie so dösend auf ihrem Bett lag, tauchte auf einmal ein komischer Gedanke in i hrem Kopf auf ... dreimal hatten sie sich geliebt, einmal ganz romantisch im Wohnzimmer im Schein vieler Kerzen, zweimal auf der eigentlich zu weichen Matratze des Eichenbetts. Kein Mal in seinem Bett, in seinem Schlafzimmer, das sie bisher nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte. Wieso nicht? Und ihr Verstand schoss die nächste, wichtigste Frage gleich hinterher: hatte Johann etwas zu verbergen?
Selbst wenn er die Angewohnheit hatte, wie ein erkälteter Bär zu schnarchen, oder wenn er einfach keine Lust hatte, sich seine Nachtruhe von ihren Hustena nfällen stören zu lassen, hätte er ihr trotzdem sein Schlafzimmer zeigen können!
Im Übrigen lag zwischen seinem und ihrem Zimmer ein drittes Zimmer, in das sie ebenfalls noch keinen Blick hatte werfen können. War dort etwas, das sie nicht sehen durfte? Mehrmals hatte sie in der Nähe der Tür (wie beim ersten Mal Ende April) einen feinen Geruch nach frisch gemähtem Gras wahrgenommen. Anfangs schickte dieser Geruch eine vage Unruhe durch ihre Nervenbahnen, aber schon bald hatte sich Rike daran gewöhnt. Trotzdem beschloss sie, der Sache auf den Grund zu gehen.
Am Freitagvormittag holte er sie vom Krankenhaus zum Essen beim Italiener ab, anschli eßend machten sie einen langen Spaziergang, und zu Hause fielen sie wie ausgehungert übereinander her.
Am Abend bereitete Johann in der Küche gerade ein paar belegte Brote zu, als Rike behaupt ete, dringend zur Toilette zu müssen. Doch statt nach rechts zum Bad zu gehen, schlich sie sich nach links den Flur entlang. Vor der Tür des mittleren Zimmers blieb sie stehen, sah zur Küche hin, fasste an die Klinke und zuckte sofort zurück. Ein leichter Stromschlag war ihr durch die Finger gefahren!
Rike zog den Ärmel der Strickjacke, in die sie sich vorhin gehüllt hatte, weil ihr kalt war, bis über die Hand hinunter, griff erneut nach der Klinke und drückte sie herunter. Abgeschlossen.
Schnell eilte sie ein paar Meter weiter, bis sie vor Johanns Schlafzimmertür stand. Sie drückte auf die Klinke. Abgeschlossen. Wieso schloss er zwei Zimmer in seinem Haus ab?! Traute er ihr nicht?! Was für Geheimnisse gab es hier?!
Ein wenig verstimmt kehrte sie in die Küche zurück. Sollte sie Johann fragen, warum die Zimmer verschlossen waren? Nein, noch nicht.
Am nächsten Morgen (es war Samstag, der 26. Juni, und es versprach ein schwü lheißer Tag zu werden) fuhren sie gemeinsam zum Supermarkt. Auf dem Rückweg bat Rike Johann durchzufahren bis zu ihrem Haus. Sie wollte ihren Wagen abholen, sie wollte ein Stück Unabhängigkeit zurück.
Ihr kleines, blaues Auto stand auf dem noch ungepflasterten, grasbewachsenen Abstel lplatz neben der Garage. Das Garagentor war geschlossen. Rike bat Johann, es zu öffnen. Es war nicht verriegelt und schwang nach oben, als er unten am Griff zog. Die Garage war leer. Was hatte man mit Achims Wagen gemacht?
Rike traute sich nicht zu nahe an Haus und Garage heran. Sie spielte die Betroffene, quetschte ein paar Tränen hervor, stieg in ihr bla ues Auto, sagte, sie wolle jetzt allein sein, und fuhr bis zu einem Waldstück, an dessen Rand sie den Wagen abstellte. Aus dem Handschuhfach holte sie einen Notizblock mit Stift hervor und versuchte zu rekonstruieren, wann sie, Hannah und Achim wie lange in den Zeitlöchern verschollen gewesen waren und wie sich die Abstände dazwischen verändert hatten.
Als sie fertig war, fühlte sie sich nicht viel schlauer: am 26.3. war sie zum ersten Mal für zwei Stunden aus dem Zeitfluss gefallen, am 8.4. für vier Stunden, am 16.4. für 30 Stunden, am 28.4 für fünf Tage und am 12.5. für drei Wochen.
Die Phasen der Abwesenheit waren immer
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