Das mittlere Zimmer
kraftvoll. Jedenfalls für sein Alter. Für das Alter zumindest, von dem Rike glaubte, dass er es haben müsste; vielleicht so um die Fünfzig. Aber wie alt er wirklich war, wusste sie immer noch nicht genau. D as Thema umschiffte er geschickt und sprachgewandt wie ein Politiker, der keine klare Aussage machen will.
Anfang der nächsten Woche überraschte Johann Rike damit, dass er einen zweiwöchigen U rlaub auf Zypern gebucht hatte, weil sie beide ,Tapetenwechsel‘ bräuchten. Gemäß Rikes Berechnungen stellte das kein Problem dar. Das früheste, mögliche Wiedererscheinungsdatum ihrer angeblich toten Familie war der 17. Juli, der Samstag sechs Wochen nach dem Verschwinden.
Und so flogen sie nach Zypern und bezogen dort ein leuchtend weißes Häuschen mit Swimmingpool im kargen Garten, das, wie sich nach und nach herausstellte, Johann, dem alten Geheimniskrämer, gehörte. Sie verbrachten zwei herrliche, friedliche Wochen miteinander und vermieden konsequent jede Anspielung auf das, was sie zu verbergen hatten. Unter diesen Bedingungen verstanden sie sich prächtig.
Am späten Nachmittag des 14. Juli kehrten sie nach Hause zurück. Rike trug J ohann auf, die Koffer auszupacken, während sie selbst losfuhr, um frische Lebensmittel einzukaufen. Auf dem Rückweg schaute sie bei ihrem Haus vorbei. Das Garagentor stand offen, niemand war zu sehen.
Am nächsten Morgen fand Rike mehrere Briefe in der Post, die an sie adressiert w aren: in dem einem ging es um ihre Witwenrente, in einem anderen um das Testament ihrer Eltern, zwei Briefe von Versicherungen, einer von der Kreisstadtverwaltung.
Rike seufzte einmal auf. Wenn die vier Verschwundenen wieder auftauchten, würde es eine Menge Lauferei und Telefoniererei geben! Johann deutete ihren gequälten Gesichtsausdruck anders, nahm ihre Hand und versicherte ihr: „Ich werde alles für dich erledigen, so gut es geht.“
Nicht nur das - er machte noch am gleichen Tag seine Praxis wieder auf. Er schien seine A rbeit sehr vermisst zu haben. Rike kümmerte sich um den Haushalt, ging mit Nero, der bei Freunden untergebracht gewesen war, spazieren, arbeitete ein wenig im Garten, fuhr unter dem Vorwand, sie besuche den Friedhof, bis zu dreimal am Tag zur Garage und fing nebenbei an, in Schubladen nach Schlüsseln zu suchen.
Denn mehr oder weniger durch Zufall hatte sie festgestellt, dass es in Johanns Haus zwei we itere verschlossene Räume gab: Einen im Keller und einen im Erdgeschoss, zwischen Warte- und Sprechzimmer. Gut, vielleicht bewahrte Johann in letzterem starke Medikamente oder Akten auf, die nicht jeder zu Gesicht bekommen sollte. Und vielleicht enthielt der Raum im Keller giftige Pflanzenschutzmittel oder gefährliche Maschinen, die nicht in die Hände Ungeübter gehörten. Vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht. Irgendein Instinkt riet ihr jedenfalls davon ab, Johann zu fragen. Der Instinkt riet ihr, nach Schlüsseln zu suchen. Doch vorerst fand sie keine.
Am Freitag, dem 16. Juli, hatte Rike Geburtstag. Sie wurde 33. Schon im Urlaub hatte sie Johann klar gemacht, dass sie weder eine Feier noch Geschenke haben wolle, danach stehe ihr zurzeit nicht der Sinn. Außerdem sei die Tatsache, dass sie noch am Leben sei und dass Johann ihr so viel Liebe gebe, Geschenk genug.
Aber natürlich holte Johann am Abend, als sie gemütlich im Garten hinter dem Haus bei e inem Glas Wein saßen, doch ein Geschenk hervor: eine Staffelei mit Leinwand und eine Kiste voller Farbtuben und Pinsel. Rike freute sich sehr, obwohl sie genau wusste, dass sie mit dem Malen nicht anfangen konnte, bis Hannah und ihre Eltern lebend und gesund wieder bei ihr waren.
Am nächsten Abend besuchten Johann und Rike das jährlich stattfindende Stadtfest, das B esucher aus dem gesamten Umkreis anzog. Auf dem Marktplatz erhob sich ein großes, weißes Zelt, in dem Live-Musik und Auftritte der städtischen Tanz- und Sportvereine dargeboten wurden.
Dort trafen sie auf Gerd-Uwe Runge-Altenfeld, den Leiter des Kulturamts, mit dem Johann Klavier spielte, sowie auf Sparkassenleiter Jörg Spitz und Tierarzt Dr. Trösser, die sich bereits mit ihren Frauen im Zelt niedergelassen hatten, in dem es heiß und feucht war wie in den tiefsten Tropen.
Rike un terhielt sich mit den ,wichtigen‘ Leuten der Stadt, die Johann alle gut zu kennen schien, trank Bier, schwitzte furchtbar und fühlte sich nicht wirklich wohl. Nach zwei Stunden bat sie Johann zu fahren. Was eine gute Entscheidung war, denn kaum waren
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