Das Mönchskraut
und verließ das Kloster. Die Nacht war kalt, aber frostfrei, und bis jetzt hatte es noch nicht geschneit. Trotzdem hatte er seine Füße, die in Sandalen steckten, mit Wollstreifen umwickelt und sich die Kapuze über den Kopf gezogen.
Der Stadtpförtner, der ihn gut kannte, begrüßte ihn freundlich und hochachtungsvoll. Eine Rechtskurve der Wyle-Straße führte ihn bergauf, dann wandte er sich nach links und betrat Bellecotes Hof. Nachdem er an die verschlossene Tür geklopft hatte, rührte sich nichts. Das konnte er gut verstehen, und er verzichtete darauf, ein zweitesmal zu klopfen. Ein allzu energisches Auftreten hätte die Leute nur erschreckt. Wenn er Geduld bewies, würden sie eher geneigt sein, ihn zu empfangen.
Nach einer Weile wurde die Tür vorsichtig geöffnet. Ein etwa elfjähriges Mädchen stand auf der Schwelle, hoch aufgerichtet und offenbar fest entschlossen, die Familie zu verteidigen.
Vermutlich spitzten die anderen Hausbewohner im Hindergrund die Ohren. Die Kleine hatte kluge Augen, und ihre zarte Gestalt wirkte sehr verletzlich. Als sie die Benediktinerkutte sah, lächelte sie erleichtert.
»Ich komme in Mistreß Bonels Auftrag, mein Kind, und ich möchte mit deinem Vater sprechen, wenn er es erlaubt.
Niemand hat mich begleitet, ihr braucht keine Angst zu haben.«
In hausfraulicher Würde zog sie die Tür weiter auf und ließ ihn eintreten. Der achtjährige Thomas und die vierjährige Dicota, natürlicherweise die furchtlosesten Mitglieder des Haushalts, sprangen hinter den Röcken der älteren Schwester hervor, um ihn mit großen Augen zu mustern. Und dann erschien Martin Bellecote in der Tür eines Nebenraums, zog die kleineren Kinder zu sich heran und legte schützend die Hände auf ihre Schultern. Er war ein gutaussehender, kräftig gebauter Mann mit einem runden, klargeschnittenen Gesicht und tiefem Mißtrauen in den Augen, was Cadfael befriedigt zur Kenntnis nahm. In dieser unvollkommenen Welt waren nur die dummen Menschen vertrauensselig.
»Kommt herein, Bruder«, sagte Martin. »Und du, Alys, mach die Tür wieder zu und schieb den Riegel vor.«
»Verzeih, wenn ich ohne Umschweife zur Sache komme«, begann Cadfael, während die Tür hinter ihm geschlossen wurde, »aber die Zeit ist knapp. Heute waren die Beamten des Landrats hier, um einen Burschen zu suchen, und ich habe gehört, daß er nicht gefunden wurde.«
»Das stimmt«, bestätigte Martin. »Er ist nicht nach Hause gekommen.«
»Ich frage dich nicht, wo er ist. Aber da du ihn gut kennst, bitte ich dich, mir eine andere Frage zu beantworten. Könnte er das Verbrechen verübt haben, das man ihm anlastet?«
Nun kam Bellecotes Frau aus dem Nebenzimmer, eine Kerze in der Hand. Sie sah ihrer Mutter ähnlich, trotz ihrer blonden Haare und der etwas fülligeren Figur, und sie besaß die gleichen ehrlichen Augen wie Richildis. »Das ist unmöglich!« rief sie im Brustton der Überzeugung. »Wenn es auf dieser Welt ein Geschöpf gibt, das seine Gefühle immer offen kundtut und alle seine Taten nur im hellen Tageslicht begeht, dann ist das mein Bruder. So war er schon als ganz kleiner Bub, als er kaum krabbeln konnte. Wann immer er Kummer hatte, wußten das alle Leute im Umkreis einer Meile.
Und er wäre unfähig, irgend jemandem so heftig zu grollen, daß er ihn umbringen könnte. Da ist er genauso wie mein Sohn.«
Das mußte Edwy sein, der ebenso wie Edwin durch Abwesenheit glänzte.
»Du bist sicher Sibil«, sagte Cadfael. »Heute habe ich ein langes Gespräch mit deiner Mutter geführt. Und was meine Vertrauenswürdigkeit betrifft - hat sie jemals einen gewissen Cadfael erwähnt, den sie als junges Mädchen kannte?«
Das Kerzenlicht spiegelte sich in ihren Augen, die erfreut, erstaunt und neugierig aufleuchteten. »Du bist Cadfael? Ja, sie hat oft von dir geredet und sich gefragt ...« Sie schaute auf seine schwarze Kutte und ihr Lächeln erlosch. Jetzt verriet ihr Blick tiefes Mitleid. Natürlich! Ihre typisch weiblichen Gedankengänge führten sie zu der Überzeugung, daß ihm das Herz gebrochen sein mußte, als er nach seiner Heimkehr aus den heiligen Kriegen vom Ehestand der einstigen Geliebten erfahren hatte - sonst wäre er niemals ins Kloster gegangen.
Sicher hätte es keinen Sinn gehabt, ihr zu erklären, daß solche Berufungen vom Himmel beeinflußt wurden und die Auserwählten trafen wie göttliche Pfeile - und daß nur wenige Männer wegen einer unerfüllten Liebe in Mönchskutten schlüpften. »Es ist ganz
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