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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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Alipur«, sagte er. »Da wird man sich bestens um dich kümmern – keine Sorge.«
    Für kurze Zeit wurden Nils Speisen noch aus dem Raskhali-Palast gebracht, dann war es auch damit vorbei. Stattdessen bekam er sein Essen nun wie die anderen Häftlinge in
einem Holznapf, und als er den Deckel hob, fand er darin eine breiige Mischung aus dāl und grobkörnigem Reis. »Was ist das?«, fragte er den Wachmann, bekam als Antwort aber nur ein achtloses Achselzucken.
    Er nahm die Schale mit hinein, stellte sie auf den Boden und entfernte sich, entschlossen, sie zu ignorieren. Nach einiger Zeit aber trieb ihn der Hunger zurück, er ließ sich mit gekreuzten Beinen davor nieder und nahm den Deckel ab. Der Inhalt war zu einer grauen Pampe erstarrt, und von dem Geruch musste er würgen, aber er zwang sich, mit den Fingerspitzen ein paar Reiskörner aufzunehmen. Als er sie zum Mund führte, wurde ihm bewusst, das ihm zum ersten Mal in seinem Leben etwas vorgesetzt wurde, was von Menschen unbekannter Kaste zubereitet worden war. Vielleicht war es dieser Gedanke, vielleicht auch der Geruch des Essens – jedenfalls überfiel ihn ein so heftiger Brechreiz, dass er nichts davon zu sich nehmen konnte. Dass sein Körper so erbitterten Widerstand leistete, erstaunte ihn, denn Tatsache war, dass er nicht an die Kasten glaubte, zumindest hatte er sich gegenüber seinen Freunden und jedem, der es hören wollte, ungezählte Male so geäußert. Wenn sie ihm dann vorwarfen, zu sehr verwestlicht zu sein, hatte er stets gekontert, nein, seine Loyalität gelte Buddha, sie gelte Mahavira, Shri Chaitanya, Kabir und vielen anderen, die so entschlossen wie jeder europäische Revolutionär die Kastengrenzen bekämpft hätten. Nil war immer stolz darauf gewesen, in dieser egalitaristischen Tradition zu stehen, umso mehr, als er das Privileg genoss, auf dem Thronpolster eines Rajas zu sitzen. Aber warum hatte er dann nie etwas von unbekannter Hand Zubereitetes gegessen? Aus Gewohnheit – eine andere Antwort fiel ihm nicht ein. Weil er immer getan hatte, was man von ihm erwartete, weil das Heer der Menschen, die sein tägliches
Leben bestimmten, dafür gesorgt hatte, dass es so und nicht anders geschah. Sein Alltag war für ihn ein Schauspiel gewesen, eine Pflicht, die ihm seine gesellschaftliche Stellung und Samsara auferlegten. Nichts davon war Wirklichkeit, es war nur Illusion, nicht mehr als eine Rolle in der Scharade vom Leben eines Mannes, der einem großen Haushalt vorstand. Dennoch hatte die Übelkeit, die ihn nun überkommen hatte, nichts Irreales; es war keine Illusion, dass sein Körper sich gekrümmt, sein Magen sich zusammengekrampft hatte vor Ekel und er vor dem Holznapf, der vor ihm stand, zurückschauderte.
    Nil stand auf und ging weg, um sich zu beruhigen. Ihm war klar, dass es hier nicht um eine einzelne Mahlzeit ging; es ging um Leben und Tod, es ging darum, ob er imstande war zu überleben oder nicht. Er kehrte zu dem Napf zurück und ließ sich wieder vor ihm nieder, führte ein paar Reiskörner zum Mund und zwang sich, sie hinunterzuschlucken. Es war, als hätte er sich glühende Asche einverleibt, denn jedes Korn zog eine Feuerspur durch seine Eingeweide. Aber er hörte nicht auf; er aß ein wenig mehr, und noch ein wenig mehr, bis es ihm vorkam, als schälte sich seine Haut vom Körper ab. In der Nacht wurde er im Traum von einer Vision seiner selbst als einer sich häutenden Kobra heimgesucht.
    Am nächsten Morgen fand er nach dem Aufwachen ein Blatt Papier unter seiner Tür. Es war eine gedruckte Anzeige in englischer Sprache: »Burnham Bros. kündigen den Verkauf eines ihnen durch Beschluss des Obersten Gerichts zugefallenen Besitzes an, einer schönen Residenz, bekannt unter dem Namen Raskhali-Rajbari …«
    Benommen sah Nil auf das Blatt hinab und ließ den Blick wieder und wieder darübergleiten. An diese Möglichkeit zu denken, hatte er sich nicht gestattet. Um sich vor dem Ertrinken
in der Flut seines Unglücks zu schützen, hatte er es vorgezogen, sich nicht allzu genau darüber zu informieren, welche Konsequenzen sich aus dem Gerichtsurteil ergaben. Jetzt zitterten ihm die Hände bei dem Gedanken, was der Verkauf der Rajbari für die bedeutete, die von ihm abhängig waren. Was würde aus den Bediensteten der Familie werden, den Witwen unter seinen Verwandten?
    Und was würde aus Malati und Raj werden? Wohin würden sie gehen? Das Haus der Familie seiner Frau, in dem jetzt ihre Brüder lebten, war zwar keine

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