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Das mohnrote Meer - Roman

Das mohnrote Meer - Roman

Titel: Das mohnrote Meer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amitav Ghosh
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herrschaftliche Residenz wie die Raskhali-Rajbari, aber es war groß genug, um sie aufzunehmen. Doch da Malati nun zusammen mit ihrem Mann ihre Kastenzugehörigkeit verloren hatte, konnte sie keinesfalls dort Schutz suchen. Nahm ihr Bruder sie zu sich, würde er niemals standesgemäße Ehegatten für seine Söhne und Töchter finden. Und Malati war zu stolz, das wusste Nil, um ihre Brüder in die Lage zu bringen, sie abweisen zu müssen.
    Er hämmerte gegen seine verschlossene Tür, so lange, bis ein Wachposten sie öffnete. Er müsse seiner Familie eine Nachricht schicken, sagte er zu dem Mann, ein Brief müsse überbracht werden; er bestehe darauf.
    »Sie bestehen darauf?« Der Posten lachte höhnisch und wackelte spöttisch mit dem Kopf: Für wen er sich denn halte, für einen Raja etwa?
    Doch die Sache musste durchgesickert sein, denn am Nachmittag hörte Nil, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Um diese Zeit konnte das Geräusch nur einen Besucher ankündigen, wahrscheinlich Parimal oder einen seiner Gumashtas oder Daftardars. Begierig ging er zur Tür, doch als sie aufging, standen seine Frau und sein Sohn vor ihm.
    »Ihr?«, brachte er mühsam hervor.

    »Ja.« Malati trug einen rot gesäumten Baumwollsari, der auch ihren Kopf bedeckte, das Gesicht aber frei ließ.
    »Bist du so gekommen?« Er trat schnell zur Seite, um sie den Blicken anderer zu entziehen. »An einen Ort, wo dich jeder sehen kann?«
    Malati warf den Kopf zurück, sodass ihr Sari auf die Schultern glitt und ihr Haar freigab. »Was spielt das noch für eine Rolle?«, fragte sie ruhig. »Wir sind jetzt nicht mehr anders als irgendjemand auf der Straße.«
    Nil begann besorgt an seiner Unterlippe zu nagen. »Aber die Schande«, sagte er. »Bist du sicher, dass du sie ertragen kannst?«
    »Ich?«, fragte sie nüchtern. »Was soll sie mir schon anhaben? Nicht um meinetwillen habe ich mit dem pardā gelebt – ich habe es getan, weil du und deine Familie es wollten. Jetzt ist das alles nicht mehr wichtig: Wir haben nichts mehr zu bewahren und nichts mehr zu verlieren.«
    Raj schlang den Arm um seinen Vater und vergrub sein Gesicht in Nils Hemd. Nil sah auf seinen Kopf hinab, und es schien ihm, als sei sein Sohn irgendwie geschrumpft – oder lag es nur daran, dass er ihn, soweit er sich erinnerte, noch nie in Unterhemd und knielangem Dhoti gesehen hatte?
    »Unsere Drachen … sind sie …?« Er versuchte einen sorglosen Ton anzuschlagen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken.
    »Ich habe sie in den Fluss geworfen«, sagte der Junge.
    »Wir haben fast alle unsere Sachen weggegeben«, fügte Malati schnell hinzu. Sie steckte ihren Sari fest, ergriff den Besen, der in einer Ecke zurückgelassen worden war, und machte sich daran, den Boden zu fegen. »Wir haben nur behalten, was wir mitnehmen können.«
    »Wohin?«, fragte Nil. »Wo wollt ihr denn hin?«

    »Es ist alles arrangiert«, antwortete Malati geschäftig fegend. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
    »Aber ich muss es wissen«, beharrte er. »Wohin geht ihr? Du musst es mir sagen.«
    »Zu Parimal.«
    »Zu Parimal?«, wiederholte Nil verblüfft. Nie war ihm der Gedanke gekommen, dass Parimal neben seiner Unterkunft in der Rajbari ein eigenes Haus haben könnte.
    »Und wo wohnt Parimal?«
    »Nicht weit von der Stadt entfernt«, sagte Malati. »Ich wusste es auch nicht. Er hat vor Jahren Land gekauft, mit dem Geld, das er von seinem Verdienst gespart hat. Er wird uns ein Eckchen überlassen.«
    Nil sank hilflos auf seine Pritsche und fasste seinen Sohn um die Schultern. Rajs Tränen drangen durch sein Hemd, und er zog den Jungen enger an sich und vergrub sein Kinn in seinem dichten schwarzen Haar. Dann begann sein Gesicht zu schmerzen, und er merkte, dass ihm die Augen überquollen von einer Flüssigkeit, ätzend wie Säure, von der bitteren Galle des Verrats an seiner Frau und seinem Kind, der Erkenntnis, dass er sein ganzes Leben wie ein Schlafwandler gelebt hatte, dass er durch seine Tage gewandert war, als wäre sein Leben nichts als eine kleine Rolle in einem Theaterstück, das ein anderer geschrieben hatte.
    Malati stellte den Besen weg und setzte sich neben ihn. »Wir kommen schon zurecht«, sagte sie eindringlich. »Mach dir unseretwegen keine Sorgen, wir schaffen das schon. Du selbst musst jetzt stark sein. Du musst am Leben bleiben, um unseretwillen, wenn schon nicht um deiner selbst willen. Ich würde es nicht ertragen, Witwe zu werden, nicht nach allem, was passiert

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