Das mohnrote Meer - Roman
ziemlich bouleversiert und hat gemeint, es sei absolut imperativ, dass er meine Instruktion persönlich in die Hand nimmt, obwohl seine Zeit von dringenderen Dingen in Anspruch genommen wird. Können Sie sich vorstellen, Mr. Reid, wie sehr mein Gesicht die Contenance verlor? Wie konnte ich dieses generöse Angebot meines Wohltäters und Patrons ablehnen? Ist Ihnen bekannt, Mr. Reid, dass man in manchen Religionen wegen Hypokrisie hingerichtet werden kann?«
»So?«
Paulette nickte. »Ja, allerdings. Sie können sich also vorstellen, Mr. Reid, wie ich mit mir selbst diskussiert habe, bevor ich zu dem Schluss kam, dass nichts Tadelnswertes daran war, als ich mit diesen Lektionen begann – dieser Instruktion in Buße und Gebet, wie Mr. Burnham es zu nennen beliebte. Sie
fanden in seinem Arbeitszimmer statt, wo er seine Bibel aufbewahrt, fast immer abends nach dem Diner, wenn es im Haus still war und Mrs. Burnham sich mit ihrer geliebten Laudanum-Tinktur in ihr Zimmer zurückgezogen hatte. Um diese Zeit konnte man davon ausgehen, dass sich auch die Bediensteten, von denen es ja, wie Sie gesehen haben, in dem Haus eine große Anzahl gibt, in ihren Quartieren befanden, sodass man ihre Füße nicht mehr umhertappen hörte. Mr. Burnham meinte, es sei die bestmögliche Zeit für Kontemplation und Buße, und er hatte Räson, denn die Atmosphäre in seinem Arbeitszimmer war von profundester Feierlichkeit. Der Vorhang war schon zugezogen, wenn ich eintrat, und er verriegelte dann auch die Tür, damit, wie er sagte, die Andacht nicht unterbrochen würde. Das Zimmer lag im Dunkeln, nur über dem Lesepult, auf dem die Bibel aufgeschlagen lag, brannten Kerzen. Die Passage für den Tag hatte Mr. Burnham schon ausgewählt und mit einem seidenen Lesezeichen markiert. Ich setzte mich auf einen Schemel neben dem Pult, dann nahm auch Mr. Burnham Platz, und die Instruktion begann. Was für ein Tableau, Mr. Reid! Wie die Kerzenflammen in Mr. Burnhams Augen schimmerten! Wie sein Bart leuchtete, als würde er im nächsten Moment aufflammen wie ein brennender Busch! Oh, wenn Sie das gesehen hätten, Mr. Reid, auch Sie wären voller Staunen und Bewunderung gewesen.«
»Da würde ich nicht drauf wetten, Miss«, sagte Zachary trocken. »Aber bitte fahren Sie fort.«
Paulette wandte sich ab und schaute zum Ufer zurück, das jetzt im Mondlicht zu sehen war. »Wie soll ich es beschreiben, Mr. Reid? Die Szene würde das Tableau eines Patriarchen aus dem Heiligen Land vor ihren Augen erstehen lassen. Wenn er las, war seine Stimme wie ein mächtiger Wasserfall, der in die Stille eines tiefen Tals hinabstürzt. Und die Passagen, die er
wählte! Es war, als hätte der Himmel mich mit seinem Blick durchbohrt wie einen Pharisäer auf dem Feld. Wenn ich die Augen schloss, versengte mir der Text die Lider. ›Gleichwie man nun das Unkraut sammelt und mit Feuer verbrennt, so wird’s auch am Ende dieser Welt gehen. Des Menschen Sohn wird seine Engel senden, und sie werden sammeln aus seinem Reich alle, die Ärgernis geben und die da Unrecht tun.‹ Kennen Sie den Text, Mr. Reid?«
»Ich hab ihn, glaub ich, schon mal gehört, aber fragen Sie mich jetzt nicht nach Kapitel und Vers.«
»Die Passage hat mich tief beeindruckt«, sagte Paulette. »Wie ich gezittert habe, Mr. Reid! Am ganzen Körper, wie von einem Schüttelfrost. So war es jedes Mal, Mr. Reid – kein Wunder, dass mein Vater meine biblische Edukation vernachlässigt hat. Er war ein timider Mensch, und ich mochte gar nicht daran denken, was für eine Qual ihm diese Passagen bereitet hätten.« Sie zog sich ihren ghūnghat über den Kopf. »So schritten wir vorwärts, Lektion um Lektion, bis wir zu einem Kapitel aus dem Hebräer-Brief kamen: ›Gott erzieht euch, wenn ihr dulden müsst! Als seinen Kindern begegnet euch Gott; denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt? Seid ihr aber ohne Züchtigung, welche sie alle erfahren haben, so seid ihr Ausgestoßene und nicht Kinder.‹ Kennen Sie diese Linien, Mr. Reid?«
»Leider nein, Miss Lambert«, sagte Zachary. »Bin kein großer Kirchgänger oder so.«
»Ich kannte sie auch nicht«, fuhr Paulette fort. »Aber für Mr. Burnham waren sie sehr bedeutungsvoll, das hatte er mir vor der Lektüre gesagt. Als er zu Ende war, sah ich, dass er tief emotioniert war, denn seine Stimme zitterte, und in seinen Händen war ein Tremor. Er kniete sich neben mich und fragte mich sehr streng, ob ich ohne Züchtigung sei. Das stürzte mich
in die
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