Das mohnrote Meer - Roman
in einer Vase steckten, sondern in einem alten Nachtgeschirr aus Porzellan. Offenbar kannte die derzeitige Mannschaft des Badgeros die Zweckbestimmung dieses Utensils nicht mehr, doch Nil erinnerte sich noch gut, dass es eigens für einen ältlichen Distriktbeamten angeschafft worden war, dessen Innereien unter schwerem Wurmbefall litten.
Nil unterdrückte einen Ausruf des Abscheus, zwang sich, woanders hinzusehen, und suchte nach einem Thema, das seine Gäste ablenken würde. Als er weitersprach, schwang noch so etwas wie ein Anflug von Ekel in seiner Stimme mit: »Aber Mr. Burnham! Wollen Sie damit sagen, das britische Weltreich wird einen Krieg anzetteln, um China Opium aufzudrängen?«
Damit löste er eine sofortige Reaktion bei Burnham aus, der sein Weinglas hart absetzte. »Da haben Sie mich ganz falsch verstanden, Raja Nil Rattan«, sagte er. »In dem Krieg, wenn er denn stattfindet, wird es nicht um Opium gehen. Sondern um ein Prinzip: um die Freiheit – die Freiheit des Handels und die Freiheit des chinesischen Volkes. Freihandel ist ein dem Menschen von Gott übertragenes Recht, und seine Prinzipien gelten für Opium genauso wie für jede andere Handelsware. Vielleicht sogar noch mehr, denn ohne das Opium blieben vielen Millionen von Eingeborenen die dauerhaften Segnungen des britischen Einflusses vorenthalten.«
Hier schaltete Zachary sich ein. »Wie denn das, Mr. Burnham?«
»Ganz einfach, Reid«, sagte Mr. Burnham geduldig. »Ohne das Opium ließe sich die britische Herrschaft in Indien nicht aufrechterhalten – das ist die schlichte Wahrheit, der wir uns nicht verschließen dürfen. Es ist Ihnen sicher bekannt, dass die Jahresgewinne aus dem Opium manchmal fast den gesamten Einnahmen Ihres Landes, der Vereinigten Staaten, entsprechen? Meinen Sie, die britische Herrschaft wäre in diesem verarmten Land auch ohne diese Quelle des Wohlstands möglich? Und wenn wir uns darauf besinnen, welch gewaltigen Nutzen Indien aus der britischen Herrschaft zieht, muss man dann nicht schlussfolgern, dass das Opium der größte Segen für das Land ist? Und ergibt sich daraus nicht ebenso folgerichtig, dass es unsere gottgegebene Pflicht ist, auch andere Länder an diesem Segen teilhaben zu lassen?«
Nil hatte Mr. Burnham nur mit halbem Ohr zugehört, denn er war mit den Gedanken woanders: Ihm war gerade klar geworden, dass die Geschichte mit dem Nachttopf auch viel schlimmer hätte ausgehen können. Was hätte er beispielsweise tun sollen, wenn das Gefäß als Terrine hereingebracht worden wäre, randvoll mit dampfender Suppe? Angesichts all der schrecklichen Dinge, die hätten passieren können, hatte er allen Grund, dankbar dafür zu sein, dass ihm der gesellschaftliche Untergang erspart geblieben war. Die Sache roch sogar derart nach göttlicher Intervention, dass er sich nicht enthalten konnte, im Ton frommen Tadels zu fragen: »Fällt es Ihnen nicht schwer, Mr. Burnham, Gott in den Dienst des Opiumhandels zu stellen?«
»Nicht im Geringsten«, erwiderte Burnham und strich sich den Bart. »Ein Landsmann von mir hat es auf eine simple Formel gebracht: ›Jesus Christus ist Freihandel, und Freihandel ist
Jesus Christus.‹ Ein wahreres Wort wurde meines Erachtens nie gesprochen. Wenn es denn Gottes Wille ist, dass das Opium zu dem Werkzeug wird, das China für Seine Lehren öffnet, dann sei es so. Ich wüsste ehrlich gesagt keinen Grund, weshalb irgendein Engländer dem mandschurischen Tyrannen helfen sollte, den Menschen Chinas dieses Zaubermittel vorzuenthalten.«
»Meinen Sie damit das Opium?«
»Was denn sonst?«, erwiderte Mr. Burnham scharf. »Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen, Sir: Wünschen Sie sich eine Vergangenheit zurück, in der man sich ohne irgendein schmerzlinderndes Mittel Zähne ziehen und Gliedmaßen absägen lassen musste?«
»Natürlich nicht.« Nil schauderte.
»Dachte ich mir. Dann sollten Sie sich aber auch vor Augen halten, dass moderne Chirurgie so gut wie unmöglich wäre ohne chemische Stoffe wie Morphin, Codein und Narkotin – und das sind nur einige der wohltätigen Mittel, die wir aus Opium gewinnen. Was würden Ihre Damen – ja sogar unsere geliebte Königin – tun, wenn es kein Laudanum gäbe? Man könnte sogar sagen, dass erst das Opium Industrie und technischen Fortschritt möglich gemacht hat: Ohne es wären die Straßen Londons von hustenden, schlaflosen, inkontinenten Massen bevölkert. Und wenn wir dies alles bedenken, müssen wir uns dann nicht fragen, ob
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