Das mohnrote Meer - Roman
kleineren Nebenflusses des Ganges. Wie schon sein Name – »Karmavernichter« – besagte, hatte dieser Nebenfluss des heiligen Stroms einen unseligen Ruf: Sein Wasser, so hieß es, könne, wenn man damit in Berührung komme, die unter Mühen erworbenen Verdienste eines ganzen Lebens auslöschen. Die beiden Flüsse waren gleich weit von Ditis einstigem Zuhause entfernt, und sie wusste, dass die Frauen des Haushalts den heiligen Ganges zum Baden und Wasserholen bevorzugten. An seinem Ufer wollte sie warten; Kalua ließ sie mit dem Floß eine Meile flussaufwärts zurück.
Es gab hier viele Felsvorsprünge, sodass es nicht schwer war, ein Versteck zu finden. Ditis Beobachtungsposten bot einen guten Blick auf beide Flüsse, und das lange Warten gab ihr reichlich Gelegenheit, über die Geschichten nachzusinnen, die man sich vom Karamnasa erzählte, über die Verunreinigung, die er den Seelen Verstorbener zufügen konnte. Die Landschaft hatte sich seit Ditis Kindheit stark verändert, und als sie sich nun umsah, schien es ihr, als erstrecke sich der zerstörende Einfluss des Karamnasa über seine Ufer hinaus bis weit ins Land hinein. Die Opiumernte war beendet, die Pflanzen welkten auf den Feldern, und alles war von verdorrten Resten bedeckt. Von einigen Mango- und Jackfruchtbäumen abgesehen, gab es nirgendwo etwas Grünes, auf dem sich das Auge hätte ausruhen können. So sahen auch Ditis Felder jetzt aus; wäre sie zu Hause gewesen, hätte sie nicht gewusst, was sie in den kommenden Monaten essen sollte. Wo war das Gemüse, das Getreide? Man sah, dass auch hier alles Land an die Opiumfabrik verpfändet war. Den Bauern war ein Vertrag aufgezwungen worden, dessen Erfüllung
ihnen keine andere Wahl ließ, als ihr Land mit Mohnblumen zu übersäen. Und nun, da die Ernte vorüber und kaum noch Getreide im Haus war, mussten sie sich noch tiefer in Schulden stürzen, um ihre Familien ernähren zu können. Es war, als verkörperte der Mohn den unheilvollen Einfluss des Karamnasa.
Am ersten Tag sah Diti ihre Tochter zweimal, beide Male jedoch in Begleitung ihrer Cousinen, sodass sie ihr Versteck nicht verlassen konnte. Aber allein schon Kabutris Anblick belohnte sie reich. Es erschien ihr wie ein Wunder, dass ihr Kind sich kaum verändert hatte, während sie selbst zwischen Leben und Tod hin- und hergewandert war.
Bei Einbruch der Dunkelheit ging sie zum Floß zurück, wo Kalua gerade ein Feuer für die Abendmahlzeit entfachte. Zum Zeitpunkt ihrer Flucht hatte Diti nur ein einziges Schmuckstück getragen, einen Nasenring; den übrigen Schmuck hatte Chandan Singh ihr wohlweislich abgenommen, bevor er sie zum Scheiterhaufen führte. Der Nasenring aber war, wie sich gezeigt hatte, von großem Wert gewesen, denn Diti hatte ihn in einer Siedlung am Fluss gegen satuā eintauschen können, Mehl aus gerösteten Kichererbsen, eine bewährte und nahrhafte Wegzehrung für Reisende und Pilger. Jeden Abend machte Kalua nun ein Feuer, und Diti knetete und buk rotīs für einen ganzen Tag. So hatte es ihnen am Ganges bisher weder an Nahrung noch an Wasser gefehlt.
In der Morgendämmerung wanderte Diti wieder zu ihrem Versteck, doch den ganzen Tag über bekam sie Kabutri nicht zu Gesicht. Erst am folgenden Tag bei Sonnenuntergang sah sie ihre Tochter mit einem Tonkrug auf der Hüfte allein an den Fluss kommen. Sie hielt sich im Schatten, als das Kind ins Wasser watete, und erst nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand bei ihr war, folgte sie ihr. Um sie nicht
zu erschrecken, flüsterte sie ein vertrautes Gebet: »Jay gangā maiyā kī … «
Das war unklug, denn Kabutri erkannte ihre Stimme sofort. Sie drehte sich um, und als sie ihre Mutter sah, ließ sie den Krug fallen und stieß einen Angstschrei aus. Dann verlor sie das Bewusstsein und sank ins Wasser. Die Strömung trug den Krug fort, und sie hätte auch Kabutri fortgetragen, hätte Diti sich nicht ebenfalls ins Wasser geworfen und das Ende von Kabutris Sari gepackt. Das Wasser war nur hüfttief, sodass sie das Mädchen unter den Achseln fassen und an Land ziehen konnte. Sie hob sich ihre Tochter auf die Schulter und trug sie zu einer geschützten Mulde im Sand.
»Ei Kabutri … ei betī … merī jān! « Sie bettete das Kind auf ihren Schoß und küsste sein Gesicht, bis seine Lider zu flattern begannen. Doch als es die Augen öffnete, waren sie vor Angst geweitet.
»Wer bist du?«, schrie Kabutri. »Ein Geist? Was willst du von mir?«
»Kabutri! Schau mir ins Gesicht.
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