Das Mond-Monster
hatte, aber es gab keinen Zweifel, denn eine andere Person befand sich nicht in ihrer Nähe.
Was sich in der Nische befand, war grauenhaft.
Dort hing eine tote Frau!
***
Die Schreie sackten in sich zusammen. Zugleich erlebte Helen einen Schweißausbruch und das große Zittern. Der Schock über die Entdeckung der Toten war wie ein Hammerschlag gekommen. Sie stand auf der Stelle, jammerte und merkte, dass kalte Tränen an ihren Wangen herabliefen.
Helen schloss die Augen. Öffnete sie nach einigen Sekunden wieder und musste erleben, dass dieses verdammte Bild geblieben war. Die Tote war immer noch in der Nische.
Ja, man hatte sie aufgehängt.
Es klemmte keine Schlinge um ihren Hals. Man hatte sie an ein Holzgestell gefesselt, das mit der Felswand eine Einheit bildete und ihm den Halt gab. Um die Arme der Toten waren Stricke gebunden worden, ebenso um die Füße. Der Körper hatte im Laufe der Zeit ein leichtes Übergewicht bekommen, aber er war nicht aus den Stricken gerutscht. Der Kopf der Toten lag zur rechten Seite hingedreht. Der Mund stand weit offen, wie zu einem letzten Schrei, den sie nicht mehr hatte ausstoßen können.
Helen zitterte so stark, als hätte man sie in einen Kübel mit Eis gesteckt. Sie wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte, aber sie lief nicht weg. Irgendwann hatte sie die Grenze ihrer Angst und des Ekels überschritten, sodass sie es sogar wagte, noch einen Schritt nach vorn zu gehen, um einen besseren Blick auf die tote Frau werfen zu können.
Die Fotos der verschwundenen Personen waren in den Zeitungen abgebildet gewesen und deshalb kannte Helen auch das Gesicht, obwohl die Verwesung bereits fortgeschritten war. Im Licht der Kerzen war nicht zu erkennen, welche Farbe die noch vorhandene Haut inzwischen angenommen hatte, aber das wollte sie auch nicht wissen. Helen erinnerte sich nur daran, dass diese Frau die letzte Vermisste gewesen war. Deshalb war ihr das Bild auch noch deutlich in Erinnerung.
Sie ging mit zwei zittrigen Schritten zurück. Durch das Weinen war die Nase verstopft, doch den widerlichen Geruch nahm sie trotzdem wahr. Jetzt konnte sie sich auch erklären, woher er stammte. Die Tote gab ihn ab. Es war der eklige Gestank der Verwesung.
Nach einer Weile schaffte es Helen wieder, klar zu denken. Sie war sich bewusst, wo sie sich befand, und wieder kam ihr der Vergleich mit dem Grab in den Sinn.
Das stimmte alles.
Sie steckte in einem Grab. Nur nicht in einem kleinen, sondern in einer großen Höhle.
Helen musste wieder daran denken, dass vier Frauen verschwunden waren. Sie selbst zählte sich nicht mit.
Eine hatte sie gefunden.
Vor dieser Nische hatten vier Kerzen gebrannt, als wollten sie der Seele den Weg ins Jenseits leuchten.
Drei weitere helle Inseln gab es noch…
»Nein«, flüsterte sie, »nein, das ist… nein, das darf nicht wahr sein…«
So sehr sie sich auch gegen eine Lösung stemmte, sie wurde den Verdacht nicht los, der für sie mittlerweile sogar zu einer Gewissheit geworden war.
Wenn sie zu den anderen drei Lichtinseln ging, dann würde sie die restlichen Toten finden.
Die Klinge eines kalten Schwerts schien sich in ihren Körper zu schieben und ließ sie frösteln. Helen Cross wusste, was vor ihr lag. Sie wusste auch, dass sie es durchstehen musste, dennoch war die Angst davor wahnsinnig stark.
Helen erinnerte sich daran, wie sie die Nachricht von ihrem beruflichen Aus erhalten hatte. Sie war aus dem Büro gegangen wie eine Marionette und hatte dabei gedacht, dass alles doch gar nicht wahr sein konnte, was da geschehen war.
Und doch hatte es den Tatsachen entsprochen. Ebenso wie damals reagierte sie auch jetzt. Monoton, vergleichbar mit einem Roboter, der ein menschliches Aussehen hatte.
So näherte sie sich der zweiten Lichtinsel, wobei sie sich fragte, warum sie sich das alles überhaupt antat und sich nicht auf den Boden warf, den Kopf in den Armen vergrub und sich in ihr Schicksal ergab.
Nein, sie war eben anders. Sie war eine Frau, die den Dingen auf den Grund ging, und davon nahm sie auch jetzt keinen Abstand, trotz der fürchterlichen Dinge, die noch auf sie warteten.
Es waren nur wenige Schritte bis zur nächsten Lichtinsel. Dort blieb sie mit gesenktem Kopf stehen, machte sich innerlich selbst stark und hob den Kopf danach an, um über die Flammen hinweg in die zweite Nische im Fels schauen zu können.
Dort hing die nächste Frau!
Nein!, schrie alles in ihr. Jede Faser ihres Körpers wehrte sich dagegen, aber sie konnte
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