Das Mondkind (German Edition)
aber das ist nicht wahr. Er will im Bett schmollen und Zuflucht im Schlaf suchen.
Crispin ist nicht schläfrig, aber er zieht seinen Schlafanzug an und schlüpft vor neun Uhr unter die Zudecke.
Der Dimmer seiner Nachttischlampe ist zu einem schwachen Schimmer heruntergedreht, und er liegt im tiefen Schatten, als er hört, wie die Tür geöffnet wird und jemand auf sein Bett zukommt. Die Leichtigkeit der Schritte und das Rascheln des Rocks verraten ihm, dass es Nanny Sayo ist.
Sie bleibt minutenlang dort stehen, während Crispin sich schlafend stellt. In ihm keimt die verrückte Erwartung auf, dass sie sich zu ihm ins Bett legen wird, aber das tut sie nicht.
Nachdem sie fortgegangen ist, liegt er einfach da und starrt dreißig Minuten lang auf die Digitaluhr.
Von manchen Dingen wissen wir, dass wir sie nicht tun sollten, von anderen Dingen wissen wir, dass wir sie tun müssen, und manchmal sind das Nichtsollen und das Müssen ein und dasselbe.
Er steht aus dem Bett auf und sieht sich im Flur um, wo die Kristallglaslampen an der Decke in zarten Prismen Licht abgeben.
Er tritt über die Schwelle und schließt leise die Tür hinter sich. Er eilt durch den Flur nach Norden, am Nähzimmer vorbei.
Mirabells Schlafzimmer liegt auf der Westseite des Flures und grenzt an die Suite von Clarette und Giles. Crispin lauscht an der Tür, aber er hört nichts.
Nach kurzem Zögern klopft er leise an, wartet und klopft noch einmal. Als Mirabell nicht antwortet, dreht Crispin versuchsweise den Türknopf. Er findet die Tür unverschlossen und betritt vorsichtig ihr Zimmer.
Die Lampen neben dem Bett sind auf die schwächste Einstellung heruntergedreht, aber es ist gerade noch hell genug, um zu sehen, dass Mirabell nicht da ist und dass er allein ist.
Wenn seine Schwester ihren Migräneanfall im Bett ausgestanden hat, dann ist das Bett seitdem gemacht worden. Die Steppdecke liegt glatt und straff da.
Durch den Spalt unter der Tür zu ihrem Badezimmer lockt ihn ein gelbes Licht an, wie das Licht in Träumen, das einen Moment, ehe der Schläfer im Dunkeln erwacht, eine Offenbarung verspricht.
Kein Laut dringt heraus.
Crispin flüstert den Namen seiner Schwester, wartet, flüstert ihn etwas lauter, erhält aber keine Antwort.
Er drückt die Tür zum Badezimmer behutsam etwas weiter auf und gerät in ein Meer weißer Kerzen in durchsichtigen Gläsern. Sie sind auf der tiefen Fensterbank aufgereiht, da und dort auf der marmornen Einfassung der Badewanne verteilt, stehen in Dreiergruppen in jeder Ecke auf dem Fußboden und flackern auf dem Waschbeckenrand und auf Ablagen, wo Spiegel, die an gegenüberliegenden Wänden angebracht sind, sie vielfach in einen zurückweichenden Wald brennender Kerzen klonen.
Die flackernden Flammen, die auf den kleinsten Luftzug reagieren, erzeugen schwache, zitternde Schatten, die wie geisterhafte Eidechsen über die Wände huschen.
Hier muss sie vor Stunden gebadet worden sein. Die Wanne ist trocken. Die nassen Handtücher sind entfernt worden.
An der weißen Badewanne kleben jedoch noch sechs blutrote Rosenblütenblätter.
Auf dem Boden neben der Wanne schimmern zwei silberne Schalen mit perlschnurförmigen Rändern. Er hebt eine der Schalen hoch und sieht, dass außen rundum Wörter in einer fremden Sprache eingraviert sind.
Auf dem Boden der Schale schimmert nicht mehr als ein Esslöffel von einer klaren Flüssigkeit. Er nimmt an, dass es sich dabei um Aqua pura handelt. Er taucht einen Finger hinein, hebt ihn an seine Lippen und leckt den Tropfen ab.
Die Flüssigkeit hat überhaupt keinen Geschmack, doch in dem Moment, als sie seine Zunge benetzt, hört er seine Schwester flüsternd, aber eindringlich flehen: » Crispin, hilf mir! «
In seiner Verblüffung gleitet ihm die Schale aus den Fingern. Er fängt sie auf, ehe sie scheppernd auf den Marmorboden treffen kann.
Er dreht sich um, aber Mirabell ist weder im Badezimmer noch in ihrem Zimmer, das hinter ihm liegt. Falls sie diese Worte tatsächlich gesagt hat, dann hat sie aus weiter Ferne zu ihm gesprochen, und er hat sie nicht mit seinen Ohren, sondern mit seinem Herzen gehört.
Nachdem er die silberne Schale vorsichtig auf den Boden gestellt hat, kehrt er ins Schlafzimmer seiner Schwester zurück, wo ihm erst jetzt auffällt, dass ihre Teddybären und ihre anderen Stofftiere fort sind. Mirabell muss zwei Dutzend Stofftiere gehabt haben, die auf dem Bett, dem Lehnstuhl und der tiefen Bank unter dem Fenster saßen und standen. Jetzt
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