Das Monster von Bozen
Mensch, eine ganz normale Arbeit, keine erkennbaren Ansatzpunkte für die üblichen Mordmotive wie Eifersucht, Neid oder Habgier, keinerlei Stoff für ein hinterhältiges Verbrechen.
Gerade als Vincenzo Franco abführen lassen wollte, fiel ihm noch eine letzte Frage ein. »Dottore Franco, vor einer Woche ist ein Arthur Achatz gestorben, das stand in der ›Dolomiten‹. Er hat für die SSP gearbeitet, oder?«
»In der Tat. Er hat uns unzählige Kunden gebracht. Er ist unersetzlich.«
»Sie waren dabei, als er starb?«
Franco presste die Lippen zusammen. »Leider, es war schrecklich.«
»Erzählen Sie uns bitte aus Ihrer Perspektive, was geschehen ist und wie Sie es erlebt haben.«
Sie erfuhren, wie schnell Achatz gestorben war. Kein Wunder, dass dieser Dottore Tadini, den Vincenzo vermutlich höchstpersönlich im Hubschrauber der Bergwacht gesehen hatte, selbst überrascht gewesen war. »Ist Ihnen irgendetwas merkwürdig vorgekommen, bei Achatz’ Tod, meine ich?«
Franco sah Vincenzo irritiert an. »Merkwürdig? Nein, wieso? Er hatte einen Herzinfarkt, und das war nicht sein erster. Er hat sich wohl übernommen.«
Vincenzo beobachtete Franco einen Moment, ehe er weitersprach. Diese Verblüffung, war die gespielt oder echt? »Wie erklären Sie es sich, Dottore Franco, dass Panzini das ganz anders gesehen hat?«
»Was hat er anders gesehen?«
Vincenzo konnte nach wie vor nicht einschätzen, ob dieses Erstaunen aufrecht oder gekünstelt war. »Er glaubte nicht an einen Herzinfarkt, Dottore Franco, zumindest nicht an einen natürlichen. Er vermutete, jemand könnte nachgeholfen haben. Deshalb wollte er am Freitag auf den Penegal, um dort einen befreundeten Arzt zu treffen. Und genau dort wird er in den Abgrund gestürzt. Merkwürdiger Zufall, finden Sie nicht?«
»Also, ich bin total baff. Ich höre das alles zum ersten Mal!«
»Sie wussten also nicht, dass Panzini zum Penegal wollte?«
Franco schlug energisch mit der flachen Hand auf den Tisch, er war anscheinend sehr gereizt. »Verdammt noch mal, nein! Was soll das überhaupt alles?«
Vincenzo hob abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. »Beruhigen Sie sich, Signore! Das war’s fürs Erste. Da Sie unter dringendem Tatverdacht stehen, muss ich Sie allerdings vorläufig in Untersuchungshaft nehmen.«
Während Marzoli Franco abführte, starrte Vincenzo auf die Pinnwand. Es schien ein eindeutiger Fall zu sein, auch wenn die restlichen Befragungen noch ausstanden. Alles sprach gegen Franco. Wenn er der Täter war, würden sie irgendwann das Motiv finden.
Allein, er glaubte nicht, dass er soeben einen Mörder verhört hatte. Vincenzo besaß ein gewisses Gespür für Situationen und Stimmungen, und Franco hatte trotz seiner sichtbaren Nervosität ehrlich überrascht gewirkt. Zittrige Hände, ein feiner Schweißfilm auf der Stirn, eine manchmal zu schrille Stimme, das waren typische Reaktionen bei einem Affektmörder mit einem gewissen Unrechtsbewusstsein, aber auch bei einem zu Unrecht Verdächtigten. Nicht die eines eiskalt berechnenden Killers. Und genau damit hatten sie es hier zu tun, das stand für Vincenzo außer Frage.
***
Bruneck
Dottore Tadini, Chefarzt der Inneren des Krankenhauses in Bruneck, war gestresst und genervt. Ständig neue Einsparungen beim Pflegepersonal, aber auch in der Verwaltung. Gleichzeitig die immer weiter ausufernde Bürokratie. Das passte nicht zusammen. Er kam sich inzwischen vor wie ein Mädchen für alles. Er füllte Formulare aus, schrieb Berichte, musste ominöse Verfahrens- und Arbeitsanweisungen entwickeln – diese überflüssigen und zeitraubenden Anforderungen des Qualitätsbeauftragten, dem sie neuerdings jeden Arbeitsschritt nachweisen mussten –, er setzte Infusionen, nahm Blut ab, sogar die Geschirrspülmaschine räumte er selbst ein.
Seine Aufgabe war es, diese Station zu leiten, für reibungslose Abläufe zu sorgen und zu operieren. Überflüssiger Papierkram und öde Hilfsarbeiten standen nicht in seiner Stellenbeschreibung. Es war sein Job, Leben zu retten, aber anscheinend konnten oder wollten diese einfältigen Politiker nicht begreifen, dass Gesundheit und Wohlergehen Existenzbedürfnisse des Menschen waren. Dagegen war er machtlos. Es war zum Heulen.
Während er wütend durch den Flur rannte, um sich in der Registratur Druckerpapier zu besorgen, lief ihm Schwester Ursula über den Weg. »Ah, Dottore Tadini, gut, dass ich Sie treffe, ich wollte gerade zu Ihnen. Was ist denn jetzt mit
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