Das Monster von Bozen
durch Bozen gelaufen, sagte er – allein, als Familienvater, mitten in der Nacht. »Ich habe viel Ärger zu Hause, Commissario, ich musste mal auf andere Gedanken kommen. Können Sie das nicht verstehen?« Es spielte keine Rolle, ob sie es verstehen konnten. Sein Alibi war weder überprüfbar noch glaubwürdig.
Sabrina Parlotti war nicht weniger verdächtig, bloß weil sie eine Frau war. Diese Art des Mordes bedurfte keiner physischen Kraft, jeder hätte den Pajero fahren können. Aber wie bei den anderen fehlte auch bei ihr ein erkennbares Motiv. Alle hatten Panzini und Achatz gemocht, niemandem waren die Umstände von Achatz’ Herztod merkwürdig erschienen. Es war zum Haareraufen. Ratlos beendeten sie die Verhöre.
Zu Hause angekommen, lief Vincenzo seine Bergrunde, brachte Gianna schonend bei, dass sie sich wegen seines Verwandtenbesuchs dieses Wochenende nicht sehen konnten, und setzte sich schließlich mit einer Flasche Gewürztraminer auf den Balkon. In Bozen unten war es weiterhin ungewöhnlich warm und schwül für einen Juniabend. In Sarnthein, rund siebenhundert Meter oberhalb von Bozen, war das völlig anders. Zwar konnte Vincenzo im T-Shirt auf dem Balkon sitzen, aber die Luft war nicht drückend, sondern angenehm lau und erfüllt von einem weichen, würzigen Duft.
Das war einer der Gründe, warum er sich damals für die Wohnung entschieden hatte. Was ihm besonders gefiel, war die idyllische Lage des Ortes, direkt an der Talfer, die auf über zweitausendsiebenhundert Metern Höhe am Penserjoch entspringt, um in Bozen in den Eisack zu münden. Vincenzos Neubauwohnung lag auf der Westseite des Flusses, die Hauptstraße führte am östlichen Ufer entlang. Von seinem Balkon aus hatte er einen unverbaubaren Blick zur Burg Reinegg und auf das Massiv des zweitausendfünfhundert Meter hohen Villander Berges.
Allein dieser Blick rechtfertigte die tägliche nervenaufreibende Fahrt. Von Bozen kommend, erschlossen nicht weniger als einundzwanzig Tunnel die steile Schlucht der Talfer. Viele waren so eng, dass schon zwei entgegenkommende Pkw nur wenig Platz zwischen sich hatten. Wenn sich aber zwei Lastwagen oder Busse begegneten, ging es oft um Zentimeter, nur im Schritttempo konnten sie aneinander vorbeifahren. Hinter ihnen bildeten sich lange Staus, und es ging nur sehr langsam voran, Tunnel für Tunnel. Weiter oben öffnete sich das Sarntal, dann konnte man schneller fahren. Obwohl die Strecke kaum länger als zwanzig Kilometer war, brauchte Vincenzo an schlechten Tagen eine Stunde. Ohne Busse und Lkw waren es manchmal kaum mehr als zwanzig Minuten.
Diese kleine Unannehmlichkeit hatte er für den herrlichen Ausblick und die ruhige Umgebung gerne in Kauf genommen. Er konnte stundenlang mit einem Glas Wein auf seinem Balkon sitzen und den Blick in die Natur genießen. Als er den Gewürztraminer entkorkte, merkte er allerdings wieder dieses unangenehme Ziehen in den Handgelenken. Er nahm sich vor, am nächsten Morgen als erstes »Arthrose« zu googeln, irgendwoher mussten diese Beschwerden doch kommen. Das war nie und nimmer ein gewöhnlicher Muskelkater.
Er wischte diese Gedanken fort, genoss sein erstes Glas und ließ den Tag Revue passieren. Signora Parlotti konnte er sich am wenigsten als eiskalte Mörderin vorstellen. Im Gegenteil, sie hatte eine ganz eigene, fast naive Art. Sie schien während des Verhörs mit den Tränen zu kämpfen. Obwohl sie unauffällig gekleidet war, mit Jeans und einer hochgeschlossenen Bluse, fand er sie anziehend. Sie war sehr hübsch, hatte lange dunkle Haare, eine sportliche Figur. Er konnte nicht einschätzen, ob ihr ihre Wirkung auf Männer nicht bewusst war oder ob sie mit ihrer unschuldigen Fassade kokettierte. Jedenfalls war es ihm während der Befragung nicht ganz gelungen, seine erregenden Phantasien zu unterdrücken. Hoffentlich hatten ihm weder die Signora noch sein Kollege Marzoli etwas angemerkt. Das wäre peinlich.
Mit diesem unangenehmen Gefühl ging er noch vor elf ins Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Im Traum begegnete ihm nicht Sabrina Parlotti, sondern ein hünenhafter Dämon in Menschengestalt. Er hatte Hände mit riesigen Krallen, eine der Hände war dick verbunden, und er stieß mit einem Monstertruck reihenweise Menschen in einen Abgrund. Dabei lachte er schauderhaft.
9
Bozen, Mittwoch, 1. Juli
Der Vice-Questore war zufrieden, weil es schon wenige Tage nach der Tat eine Verhaftung gegeben hatte. »Gratuliere, Commissario, das war gute
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