Das Monster von Bozen
abgehen. Vielleicht würde er eine klarere Vorstellung vom Ablauf des Mordes bekommen, wenn er die Tour, die sie gegangen waren, genau in Augenschein nahm. Aber da war nichts zu machen, er durfte seine Eltern nicht enttäuschen. Mürrisch ging er in Richtung Altstadt.
***
Vincenzo kam erst um halb sieben in der Trattoria an, obwohl ihn seine Mutter nachdrücklich um halb sechs bestellt hatte. Er bereitete sich schon innerlich auf Antonias Donnerwetter vor, stattdessen empfingen ihn schon vor der Trattoria eine jauchzende Tante und ein Onkel, der ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte und in würdevollem Tonfall verkündete: »Dich erwartet eine Überraschung, mein Junge«.
Ehe er sich versah, stand Tante Erika hinter ihm und hielt ihm die Augen zu. »Los, in die Trattoria, ich führe dich. Geh zu!« Vincenzo wusste nicht, wie ihm geschah. Hatte sein Vater vielleicht den Wein des Jahrhunderts ausgegraben, und er durfte ihn als Erster probieren? Eine kichernde Erika hinter sich, die ihm die Hände vor die Augen gelegt hatte, was bemerkenswert war, weil seine Tante fast dreißig Zentimeter kleiner war als er, stolperte er in die Trattoria. »Stehen bleiben, Augen zulassen!« Ein kurzes Getuschel, dann zog Erika ihre Hände weg, doch nur ganz kurz. Eine Sekunde später hielt sie ihm wieder die Augen zu. Doch halt! Das waren nicht Tante Erikas Hände. Er roch »Eternity«, das benutzte sie bestimmt nicht, außerdem hatte er es vorher nicht gerochen. Woher kannte er bloß diesen Duft? Natürlich! Das Parfüm hatte er bei seinem letzten Besuch Gianna mitgebracht! Gianna? Gianna!
Er dreht sich um und sah unvermittelt in Giannas große rehbraune Augen. »Il mio bello Commissario!« Schon spürte er Giannas Lippen auf seinen. Vincenzo kam sich vor wie in einem Traum. Gianna lächelte ihn an, seine Verwandten klatschten, alle sprachen wild durcheinander.
Gianna hatte schon am Dienstag in der Trattoria angerufen und Vincenzos Eltern ganz offen gefragt, ob sie nicht über das Wochenende zu Erikas Geburtstag kommen könnte. Überrumpelt hatten die beiden zugestimmt. Gianna hatte ein Hotelzimmer mitten in der Bozener Altstadt reserviert, keine fünf Fußminuten von der Trattoria entfernt. »… wissen Sie, dann können wir beide was trinken, und Ihre Schwester und ihr Mann haben Vincenzos Wohnung für sich.« Nun saßen sie zusammen in der Trattoria und feierten ausgelassen Erikas Geburtstag, die sich über ihren Südtirol-Spezialitätenkorb sichtlich freute. Jedwede Förmlichkeit war nach ein paar Minuten vergessen, man duzte sich und prostete sich zu.
Es wurde ein fröhlicher Abend, sie aßen und tranken viel. Es war lange nach Mitternacht, als Onkel Rudolf sich erhob und feierlich proklamierte: »Gianna, Vincenzo, ihr beide seht euch ja viel zu selten. Wir wollen euch nicht das gesamte Wochenende in Beschlag nehmen, wir waren ja auch mal jung« – augenzwinkernd lächelte er seine Frau an – »also geben wir euch morgen frei. Erika und ich fahren nach Meran und besichtigen die Gärten von Schloss Trauttmansdorff. Das muss jetzt ein einziges Blütenmeer sein. Es reicht, wenn ihr uns morgen Abend noch einmal das Gefühl gebt, wieder jung zu sein. In diesem Sinne, Prost!«
In Vincenzo brodelten die Gefühle. Er konnte es kaum erwarten, mit Gianna das sicherlich großzügige Hotelbadezimmer zu testen. Mit ihren offenen Haaren sah sie umwerfend aus, dazu ihre warmherzige und verbindliche Ausstrahlung, mit der sie sofort alle Sympathien seiner Familie gewonnen hatte. In diesem Moment hatte sie nichts gemein mit der Kanzlei-Gianna. Und Onkel Rudolfs Ankündigung würde auf wundersame Weise dazu beitragen, Privates und Berufliches optimal miteinander zu verbinden.
Nachts um drei Uhr lagen sie noch wach in ihrem Himmelbett, in dem sie sich mehrmals geliebt hatten. »Du, Gianna?«
»Ja, mein schöner Kommissar?«
»Du liegst doch gerne an einem schönen See, liest ein Buch und tauchst zwischendurch ins kühle Nass, oder?«
»Was kommt denn jetzt?«
Vincenzo beugte sich über sie und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Ich würde gerne morgen mit dir ins Pustertal fahren. Ich möchte dort eine bestimmte Wanderung machen, alleine, nicht allzu lange, höchstens ein paar Stunden. In Sand in Taufers gibt es ein wunderschönes Freibad, einen Naturbadeteich, traumhaft, niemals überlaufen und in wunderschöner Umgebung. Du siehst über die Burg Taufers direkt auf den Zillertaler Hauptkamm. Das ist ein grandioser
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