Das Monster von Bozen
der schon wieder pustenden Dottoressa Paci. »Wie wirkt die Substanz im menschlichen Organismus? Warum kann ein gesunder Mensch davon sterben?«
»Digimerck wird gegen Herzinsuffizienz verordnet, es steigert also die Herzkraft. Wenn es aber überdosiert wird, kommt es zu einer Extrasystolie, schließlich zu Herzkammerflimmern und letztendlich zum Herzstillstand. Der Puls kann zuvor auf unter zwanzig Schläge in der Minute sinken.«
»Ist es von Bedeutung, wenn das Gift bei Anstrengung in den Organismus gelangt, zum Beispiel auf einer Bergwanderung?«
»Da ist das Herz ohnehin im Belastungszustand. Gleichzeitig gelangt das Gift noch rascher in den Kreislauf, der Herztod tritt dann also noch schneller ein. An dieser Stelle sind Achatz’ Herzrhythmusstörungen von Belang. Bei seiner Art von Herzproblemen ist ein Medikament wie Digimerck nicht angezeigt. Nach meiner Einschätzung war Achatz überhaupt nicht auf Medikamente angewiesen. Insofern würde ich ausschließen, dass er sich versehentlich selbst eine zu große Dosis verabreicht hat. Wenn Sie ganz sicher gehen wollen, müssten Sie seinen Hausarzt kontaktieren.«
»Wie schnell würde der Tod bei einer extrem hohen Dosierung eintreten?«
»Das lässt sich schwer sagen. Das hängt vom Typ, der Dosis und den Umständen ab. In diesem Fall würde ich sagen, zwischen einer und drei Stunden nach Einnahme. Mit Unsicherheiten in beide Richtungen.«
Vincenzo stellte sich den Arthur-Hartdegen-Weg vor, sah eine plaudernde und lachende Wandergruppe, die gewiss nicht auf jeden ihrer Tritte achtete. »Wäre es denkbar, dass jemand dieses Gift versehentlich abbekommt? Wenn er mit der Pflanze in Kontakt kommt, sie anfasst?« Vincenzo musste daran denken, wie oft er auf seinen Touren den roten Fingerhut bewundert und angefasst hatte, ohne davon Herzprobleme zu bekommen. Er wäre niemals auf die Idee gekommen, es mit einer hochgiftigen Pflanze zu tun zu haben.
Dottoressa Paci, die ihren Kampf gegen die renitente Locke endgültig aufgegeben hatte, schüttelte den Kopf. »So einfach ist es auch wieder nicht. Für einen plötzlichen Herztod bedarf es einer bestimmten Dosis, die Sie über Berührungskontakt nicht erreichen können. Zudem hat Digitalis purpurea, wie gesagt, einen sehr bitteren Geschmack. Jeder Mensch würde das sofort wieder ausspucken.«
»Brauche ich dafür Vorkenntnisse, muss ich also Arzt sein oder Pharmazeut?«
»Keineswegs, Sie müssen bloß ein paar Minuten im Internet recherchieren, dann kennen Sie die nötige Dosis. Jeder könnte so einen Mord begehen.«
»Mit anderen Worten: Wir haben es mit einem fast perfekten Mord zu tun. Ohne Obduktion wären wir niemals darauf gekommen.«
Dottoressa Paci schüttelte wieder den Kopf, wobei ihre Lockenpracht für einen kurzen Augenblick ihr gesamtes Gesicht verdeckte. »Keineswegs, Commissario. Ihr Täter mag sich für perfekt halten, aber in diesem Fall hatte er eine große Portion Glück. Mein Kollege, Dottore Tadini, hat als Erstes den Herzstillstand festgestellt, die Nulllinie beim EKG. Wenn Achatz’ Herz zu diesem Zeitpunkt noch geschlagen hätte, wäre Tadinis Diagnose anders ausgefallen, er hätte sofort die Digitalisvergiftung erkannt. Dieser Mord basiert vermutlich auf einer Google-Recherche, perfekt ist er mitnichten!«
Vincenzo verließ die Gerichtsmedizin. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass eine gewöhnliche Pflanze, die in Südtirol massenhaft vorkam, Arthur Achatz aus dem Leben gerissen hatte. Er hatte eher an ein seltenes Medikament oder eine schwer erhältliche Substanz aus der Apotheke gedacht. Das schränkte den Kreis der Verdächtigen kaum ein.
Allerdings teilte er Dottoressa Pacis Einschätzung in einem Punkt nicht. Er glaubte nicht, dass Achatz’ Mörder Glück hatte. Der Täter war sich der Gefahr bewusst, dass die Digitalisvergiftung auffallen könnte. Er suchte den Kitzel sogar. Er wollte, dass seine Taten entdeckt wurden, sehnte sich nach Anerkennung, Bewunderung. Vielleicht war auch die Beule an Francos Wagen kein Zufall. Die Polizei sollte diese Spur finden. Sie hatten es nicht nur mit einem Mörder zu tun, sondern mit einem Psychopathen.
Umso wichtiger war es, den Mord nachzuvollziehen. Wer hätte Achatz wie, wo und wann das Digimerck verabreichen können? Es konnte nur auf dem Arthur-Hartdegen-Weg oder kurz davor passiert sein. Würden nicht seine Verwandten an diesem Wochenende seine ungeteilte Aufmerksamkeit beanspruchen, könnte er den Arthur-Hartdegen-Weg
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