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Das Monster von Bozen

Das Monster von Bozen

Titel: Das Monster von Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rüth
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Anblick. Ich könnte dich vormittags absetzen und nachmittags dazukommen. Was hältst du davon?«
    Nachdem er ihr den Grund für seine Wanderlust erklärt hatte, willigte sie ein. Diese Motivation konnte sie nachvollziehen. Es war genau das, was sie sich bei ihm wünschte: beruflicher Ehrgeiz.

12
     
    Sand in Taufers, Samstag, 4. Juli
     
    Um halb elf setzte Vincenzo Gianna vor dem Freibad ab. Eine Viertelstunde später stand er am Hotel Hochgall, dort, wo Arthur Achatz seine letzte Wanderung begonnen hatte. Er hatte nur ein Ziel: Er wollte sich bei jedem Schritt in den Täter hineinversetzen. Wann hätte er Achatz das tödliche Mittel unbemerkt verabreichen können und wie? Wo würde eine Gruppe mit ganz unterschiedlicher Kondition Pausen einlegen? Wie lange waren sie bis zu den Steinplatten unterwegs? War es überhaupt von Bedeutung, dass Achatz ausgerechnet auf der Wanderung gestorben war? Vielleicht hatte er die tödliche Dosis nur zufällig gerade an diesem Tag zu sich genommen? Unendlich viele Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Hoffentlich würde er an diesem Tag ein paar Antworten finden. Er ging langsam los, bis zum Abzweig in den Bergwald. Dort blieb er stehen und blickte nach oben.
    Vor ihm lag ein steiler Anstieg von sechshundert Höhenmetern bis zur oberen Kofleralm. Er versuchte sich vorzustellen, dass er zwanzig Jahre älter und zwanzig Kilogramm schwerer wäre und bei Weitem weniger sportlich. Was hast du in diesem Moment gedacht? Wusstest du schon, wo und wann Achatz sterben würde? Dann machte er sich auf den Weg bergan, durch mehrere Viehtore hindurch. Für einen Einzelwanderer bedeuteten sie keine zeitliche Verzögerung, aber wenn hier eine größere Gruppe durchmusste, dauerte es jeweils ein paar Minuten: Tor aufmachen, die anderen durchgehen lassen, ein paar Scherze, Tor zumachen, weitergehen. Er verweilte an jedem Tor einen Augenblick. Erst nach zweieinhalb Stunden erreichte er die Alm, er hatte doppelt so lange gebraucht wie sonst.
    Dort, an dem Kreuz mit dem phantastischen Panoramablick, hatten sie mit Sicherheit eine längere Pause gemacht, denn wenig Trainierte spürten hier wohl erste Anzeichen von Erschöpfung. Er schloss die Augen, stellte sich die Wandergruppe vor, die sich hier niederließ. Hatte jeder sein eigenes Gepäck, seine eigene Verpflegung dabei? Oder hatten die Konditionsstärkeren angeboten, für die Schwächeren das Gepäck zu tragen? Er sprach leise in das kleine Diktiergerät, das er morgens noch aus dem Büro geholt hatte: Fitnesszustand und Bergerfahrung prüfen. Wer hat wessen Gepäck getragen? Wann, wo und wie lange waren die Pausen? Er sah vor seinem geistigen Auge, wie jemand aus der Gruppe unbemerkt etwas unter Achatz’ Jause mengte. Wahrscheinlich waren sie von diesem einzigartigen Rundumblick derart überwältigt, dass keiner sonderlich auf sein Gepäck achtete. Es wäre ein Leichtes gewesen, dem arglosen Achatz schon hier die Substanz unterzumischen. Theoretisch hätte es jeder tun können. Er begriff, dass sie alle Wanderer nochmals mit gänzlich anderen Schwerpunkten befragen mussten.
    Mit ungewohntem Schlenderschritt setzte er sich wieder in Bewegung. War jemand zwischendurch ausgetreten, also unbeobachtet gewesen? Wieder sprach er in sein Diktiergerät. Er erreichte die Ursprungalm nach weiteren anderthalb Stunden. Mit Pause war er schon über vier Stunden unterwegs, unglaublich. Ob sie hier eingekehrt waren?
    Er sprach den Hüttenwirt auf die Wandergruppe an. »An die kann ich mich gut erinnern. Von denen ist einer gestorben, da hinten auf den Felsplatten! Ich habe den Hubschraubereinsatz gesehen. Die sind vorher an meiner Hütte vorbeigegangen. Einer wollte bei mir was trinken, aber ein anderer sagte, sie sollten weitergehen, weil es noch ein weiter Weg wäre.« Allmählich füllte sich der Chip des Diktiergerätes.
    Vincenzo ging langsam weiter, erreichte die schmale Brücke, hinter der es bald wieder steil bergan ging. Wahrscheinlich hatten sie hier nochmals gerastet, um etwas zu trinken. Er ging jetzt fast so langsam wie ein Spaziergänger, blieb zwischendurch immer wieder stehen. Auf diese Weise benötigte er für diesen harmlosen Anstieg fast eine halbe Stunde. Nun hatte er die Felsplatten erreicht, an denen die geplante Tour der Gruppe mit Arthur Achatz’ Tod endete.
    Er konnte vor sich sehen, wie Achatz von Schmerzen gezeichnet auf die Felsplatten sank. Sicherlich war in der Gruppe Panik ausgebrochen – echte und vorgetäuschte. Jemand hatte

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