Das Monster von Bozen
vielleicht versehentlich ein Locher oder eine Akte darauf fallen. Dann würden die Ampullen kaputtgehen.«
Vincenzo schüttelte den Kopf. Erst ein Autoschlüssel, jetzt Digimerck, dasselbe Schema, dieselbe Methode, derselbe Täter. »Wer weiß davon?«
»Kann ich nicht sagen, ich weiß nicht, wann ich wem davon erzählt habe. Es könnte theoretisch jeder wissen. Manchmal bitte ich meine Sekretärin, mir eine geeignete Krawatte rauszusuchen, ich bin nämlich nicht sonderlich stilsicher.«
»Noch eine wichtige Frage, Signor Schimmel: Wann haben Sie das Digimerck zum letzen Mal bewusst in Ihrer Schublade wahrgenommen?«
»Kann ich auch nicht sagen, es befindet sich seit ungefähr einem Vierteljahr dort. Ich habe mir höchstens mal eine Krawatte rausgenommen, wenn meine Sekretärin nicht da war, aber das ist bestimmt auch schon einen Monat her.«
Mit anderen Worten: Der Täter hatte das Digimerck problemlos irgendwann vor Achatz’ Tod entwenden können, es wäre und war niemandem aufgefallen. Diese menschenverachtende Kaltblütigkeit fing an, Vincenzo zu beunruhigen.
Marzoli, der bis dahin das Telefonat ungläubig verfolgt hatte, schien Vincenzos Gedankengänge zu erahnen. »Commissario, dieser Pressemensch hat recht. Das ist ein Monster. Ich befürchte, dass das Morden weitergeht, wenn wir ihn nicht bald fassen. Es bleiben nach unseren Schlussfolgerungen nur noch zwei übrig: Salvatore Gemini und Franz Junghans. Sollen wir für die beiden nicht lieber eine Überwachung beantragen? Vielleicht macht er doch einen Fehler.«
Vincenzo winkte ab. »Ich habe schon bei Baroncini angefragt. Keine Chance. Wir könnten das höchstens selbst übernehmen, zum Beispiel nach Feierabend. Fragt sich, was das bringen soll. Stellen wir uns lieber ein paar kritische Fragen: Was, wenn der Erpresser von damals nicht der Mörder von heute ist? Wenn wir falschliegen? Vielleicht hat Schimmel Graf erpresst, aber nichts mit den Morden zu tun? Haben Sie sich mal in diese Richtung Gedanken gemacht?«
»Mehr als einmal. Meine Frau meinte gestern sogar, dass ich in letzter Zeit oft so geistesabwesend wirke. Ich bin aber nach wie vor überzeugt, dass es ein und derselbe ist. Ich finde, davon sollten wir weiterhin ausgehen.«
Vincenzo fiel das Gespräch mit dem Journalisten Fasciani ein. »Mir kommt gerade ein anderer Gedanke, Ispettore. Bitte nehmen Sie sich einen Stift und schreiben Sie neben Maulwurf ›Täter‹.«
»Wieso Täter?«
»Ich glaube, wir haben zu eindimensional gedacht, uns von scheinbaren Offensichtlichkeiten blenden lassen. Es gibt zwei, die jedes Detail kennen: uns und den Täter.«
»Sie meinen, der Täter ruft selbst bei einer Zeitung an und berichtet von seinen Taten? Warum? Sucht er Publikum, Bewunderung?« Marzoli wirkte nicht überzeugt, aber Vincenzo ließ sich nicht von seinem Gedanken abbringen.
»Ich denke, es geht ihm nicht allein um Bewunderung. Dann würde er nicht so sehr die Einzelheiten der Taten verraten, sondern versuchen, die Perfektion der Morde in den Mittelpunkt zu stellen. Nein, wenn er es war, und das glaube ich, dann ist das an uns gerichtet. Seht her, ich bin viel zu genial für euch, mich kriegt ihr nie, nicht einmal, wenn ich es der Presse erzähle. Außerdem könnt ihr euch jetzt gegenseitig zerfleischen. Wer ist der Maulwurf in der Questura? Er will uns damit ablenken, uns auf eine falsche Fährte locken. Und er will uns in der Öffentlichkeit vorführen, um uns seine Überlegenheit zu demonstrieren. Wissen Sie was, Marzoli, vielleicht ist er uns gar nicht mehr so weit voraus. Ich glaube, er beginnt sich zu überschätzen.«
23
Mittwoch, 22. Juli
Vincenzo nippte gedankenverloren an seinem Espresso. Sie hatten Gemini und Junghans in der Questura erneut befragt und wieder dieselben Antworten erhalten. Stellte man einem normalen Verdächtigen oft genug dieselben Fragen, dann kam irgendwann der Moment, in dem er sich verplapperte, weil er nicht mehr ausreichend nachdachte, bevor er antwortete. Dann brach er ein. Aber keiner der beiden geriet ins Wanken. Im Gegenteil, Mantinger hatte über Junghans die Bitte ausrichten lassen, diesem, wenn er denn schon in der Questura sei, die Trinkflasche mitzugeben. Da sich keinerlei andere Spuren darauf fanden als Mantingers Fingerabdrücke und zweifelsfrei niemals etwas anderes darin abgefüllt worden war als Wasser, mussten sie seinem Wunsch sogar entsprechen.
Nachdem sie auf diese Weise nicht weiterkamen, wendeten sie sich der
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