Das Monster von Bozen
seiner Abteilung als Neuling zugeordnet wurde, musste durch eine harte Schule gehen. Das war nichts für Sensibelchen. Der Praktikant, den Vincenzo hatte weglaufen sehen, würde die Spurensicherung wohl nie wieder betreten.
»Besonders nachsichtig waren Sie nicht gerade mit dem armen Kerl. Den haben Sie für immer vergrault. Haben Sie denn trotz seiner unverzeihbaren Nachlässigkeit etwas Interessantes herausgefunden?«
Reiterer hatte sich noch nicht beruhigt. »Nachlässigkeit nennen Sie das? Das war keine Nachlässigkeit, das war eine unverzeihliche Schlamperei! Es bedarf keiner Intelligenz, um zu begreifen, dass man Beweisstücke, die in der Spurensicherung rumliegen, nicht mit bloßen Händen anfassen darf. Manchmal komme ich mir vor wie in einem Kindergarten!«
Vincenzo nickte Reiterer aufmunternd zu: »Und?«
Mit einem Grummeln wechselte Reiterer das Thema. »Also gut: Auf dem Abschiedsbrief konnten wir ausschließlich Mancinis Fingerabdrücke nachweisen, abgesehen von denen meines Praktikanten – Expraktikanten. In der Wohnung haben wir einen PC mit Drucker gefunden. Der Abschiedsbrief wurde auf diesem PC verfasst, in der Nacht von Sonntag auf Montag um null Uhr fünfzehn. Vorbehaltlich der noch ausstehenden Obduktion sagt mir meine Erfahrung: Genau um diese Zeit ist Mancini gestorben. Der Brief wurde auf diesem Drucker ausgedruckt. Auf der Tastatur und dem Drucker haben wir nur zwei unterschiedliche Fingerabdrücke festgestellt, von ihm und von einer Frau, vermutlich seiner Frau. Das werden wir noch überprüfen. Ebenso finden sich ausschließlich seine Abdrücke auf den Weinflaschen, die auf dem Glastisch standen. Was ebenfalls zum Eindruck eines Selbstmordes passt, sind Mancinis alleinige Fingerabdrücke auf der Waffe sowie der Einschusskanal in der rechten Schläfe. Wenn Sie sich erschießen wollten«, Reiterer hielt sich den Zeigefinger waagerecht an die Schläfe und drückte zur Verdeutlichung mit dem Daumen ab, »dann würden Sie automatisch so schießen. Ein paar Dinge irritieren mich zwar ein wenig, aber ich weiß nicht, ob es Sinn macht, sich in Spekulationen zu ergehen.«
»Doch, macht es!«
Reiterer zögerte einen kurzen Moment. »Also gut, es sind vermutlich nur Kleinigkeiten. Fangen wir mit dem Glastisch an. Er war auffällig sauber. Wenn jemand sich an einem Glastisch volllaufen lässt, setzt er zigmal das Glas und Flaschen darauf ab. Auf dieser Art Tisch hinterlässt das reichlich Spuren. In diesem Fall gab es zwar Spuren, aber weniger, als man angesichts von fünf Flaschen Rotwein vermuten würde. In der Küche haben wir allerdings ein Trockentuch gefunden, mit dem der Tisch abgewischt worden sein könnte. Darauf sind wiederum nur Mancinis Fingerabdrücke. Dennoch ist es merkwürdig. Und was mich sehr irritiert: In dem Abschiedsbrief, den Sie gleich mitnehmen können, sind keinerlei Fehler, keine Rechtschreibfehler, keine Tippfehler, nichts. Sie verstehen?«
Vincenzo verstand keineswegs. »Der Mann war Amtsleiter, also des Deutschen mächtig.«
Reiterer lächelte ihn mitleidig an, sagte aber nichts. Es machte ihm Spaß, den Commissario ein wenig rätseln zu lassen. Vincenzo dachte einen Moment darüber nach, ob er das witzig finden sollte, aber dann fiel auch bei ihm der Groschen. »Ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Sie denken an seinen Alkoholkonsum, habe ich recht?«
Reiterer deutete ein leichtes Applaudieren an. »Gratuliere, Bellini, das ging erstaunlich fix, gar nicht schlecht für einen Commissario. Auch ohne Obduktionsbefund ist in der Tat anzunehmen, dass Mancini sehr viel Alkohol im Blut hatte. Dass man in diesem Zustand in der Lage ist, ein fehlerfreies Schreiben aufzusetzen, kann ich mir schwerlich vorstellen.«
»Auch wenn das nicht Ihre Aufgabe ist, Signor Reiterer, ich frage trotzdem: War es Ihrer Meinung nach Selbstmord oder nicht?«
»Schwierig zu beurteilen ohne Obduktionsbefund, ich würde sagen, siebzig zu dreißig: ja.«
Mit diesen Informationen und dem Abschiedsbrief ging Vincenzo zurück in sein Büro, wo Marzoli bereits auf ihn wartete. Der Ispettore hatte die Zeit genutzt, um hemmungslos über die wieder aufgefüllte Etagere herzufallen. Vincenzo griff sich zwei Cantuccini, um nicht leer auszugehen, und las Mancinis Brief vor:
Ich habe mich dazu entschlossen, meinem sinnlosen Leben ein Ende zu setzen. Unter dem Deckmantel eines Krisenfonds in Liechtenstein habe ich jahrelang Fördergelder unterschlagen. Das kann ich nicht mehr mit meinem
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