Das Monstrum
sie zuerst ihr Gesicht genau studierte; dann fuhr sie mit den Fingern durch das Haar, hob es hoch und ließ es wieder fallen.
Das Grau war ganz offensichtlich immer noch da, soweit es sich bisher gezeigt hatte.
Sie hätte sich nie träumen lassen, dass sie einmal froh sein würde, graue Haare an sich zu sehen, aber sie war froh. Gewissermaßen.
6
Am frühen Abend waren im Westen dunkle Wolken aufgezogen, bei Einbruch der Dunkelheit hatte es zu donnern angefangen. Es schien, als wollte der Regen zurückkommen, zumindest für einen One-Night-Stand. Anderson wusste, dass sie Peter heute Nacht nicht aus dem Haus bekommen würde, außer für die Verrichtung eines dringenden Geschäfts; seit seiner Welpenzeit hatte der Beagle panische Angst vor Gewitter.
Anderson saß in ihrem Schaukelstuhl am Fenster und wäre jemand da gewesen, dann hätte es wahrscheinlich so ausgesehen, als läse sie, aber in Wirklichkeit quälte sie sich, quälte sich grimmig durch die Abschlussarbeit Weidekrieg und Bürgerkrieg. Sie war staubtrocken; dennoch war Bobbi überzeugt, dass sie ihr überaus nützlich sein würde, wenn sie mit dem neuen Buch anfing … was demnächst geschehen musste.
Nach jedem Donnergrollen rückte Peter ein wenig näher an den Schaukelstuhl und an Bobbi heran, und dabei schien er fast beschämt zu grinsen. Ja, ich weiß, dass es mir nichts tun wird, ich weiß, aber ich komme ja auch nur ein wenig näher, okay? Und wenn ein ganz wirklicher Knall kommt, dann werde ich dich lediglich aus deinem verschissenen Schaukelstuhl werfen, was meinst du? Das stört dich doch nicht, oder, Bobbi?
Das Gewitter hielt sich bis neun zurück; erst dann war Anderson überzeugt, dass ihnen einiges bevorstand – das, was die Leute aus Haven »einen echten Heuler« nannten. Sie ging in die Küche, kramte in dem begehbaren Schrank, der ihre Vorratskammer bildete, und fand ihre Coleman-Petroleumlampe auf einem der oberen Regale. Peter folgte ihr dichtauf, er hatte den Schwanz zwischen die Beine geklemmt
und ein beschämtes Grinsen im Gesicht. Als Anderson mit der Lampe aus dem Schrank kam, wäre sie beinahe über ihn gestolpert.
»Gestattest du, Peter?«
Peter wich ein wenig zurück, dann drängte er sich gegen Andersons Knöchel, als ein Donnerschlag ertönte, der so laut war, dass er die Fensterscheiben zum Klirren brachte. Als Anderson wieder zu ihrem Stuhl kam, zuckten blauweiße Blitze und ließen das Telefon aufleuchten. Der Wind schwoll an und brachte die Bäume zum Rauschen und Seufzen.
Peter setzte sich dicht vor den Schaukelstuhl und sah flehend zu Anderson empor.
»Okay«, sagte sie seufzend. »Komm rauf, du Depp.«
Peter brauchte keine zweite Einladung. Er sprang auf Andersons Schoß und verpasste dabei mit einer Vorderpfote ihrem Schritt einen verdammt guten Hieb. Er schien sie immer dort oder an einer Brust zu erwischen; er zielte aber nicht – es war lediglich eines dieser mysteriösen Dinge wie etwa ein Fahrstuhl, der immer dann auf jedem Stockwerk hielt, wenn man es besonders eilig hatte. Wenn es ein Mittel dagegen gab, so hatte Bobbi Anderson es noch nicht gefunden.
Donner grollte über den Himmel. Peter kuschelte sich an sie. Sein Geruch – Eau de Beagle – drang Bobbi in die Nase.
»Warum kriechst du nicht einfach ganz in mich rein und bringst es hinter dich, Peter?«
Peter grinste sein beschämtes Grinsen, als wollte er sagen: Ich weiß, ich weiß, reite nicht darauf herum.
Der Wind nahm zu. Die Lichter fingen an zu flackern, ein sicheres Zeichen dafür, dass Roberta Anderson und Central Maine Power einander ein herzliches Lebewohl sagen würden … zumindest bis drei oder vier Uhr morgens. Anderson
legte die Abschlussarbeit beiseite und nahm ihren Hund in die Arme. Hin und wieder ein Sommergewitter oder ein winterlicher Schneesturm machten ihr eigentlich nichts aus. Ihr gefiel die Kraft, die in ihnen steckte. Ihr gefiel der Anblick, wie sich diese Kraft auf ihre grausame und blindlings direkte Art auf das Land auswirkte. Sie spürte lebloses Mitleid im Wirken solcher Unwetter. Sie konnte spüren, wie dieses hier in ihr arbeitete – die Härchen auf ihren Armen und im Nacken sträubten sich, ein besonders naher Blitzstrahl gab ihr das Gefühl, von der Energie feuerverzinkt zu werden.
Sie erinnerte sich an ein merkwürdiges Gespräch, das sie einst mit Jim Gardener gehabt hatte. Gard hatte eine Stahlplatte im Schädel, ein Souvenir an einen Skiunfall, der ihn im Alter von siebzehn Jahren fast das Leben
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