Das Monstrum
würde.
»Mir war, als müsst ich sterben«, hatte Alvin Rutledge zu Leandro gesagt. Rutledge war ein momentan arbeitsloser Fernfahrer, der in Bangor lebte. Sein Großvater war Dave Rutledge, der sein Leben lang in Haven gewohnt hatte.
»Was meinen Sie genau damit?«, fragte Leandro.
Alvin Rutledge sah den jungen Reporter verschlagen an. »Noch ein Bier würd jetzt gut runtergehen«, sagte er. Sie saßen in Nan’s Tavern in Bangor. »Reden ist erstaunlich staubige Arbeit, Mann.«
»Ist es wohl«, sagte Leandro und bat die Kellnerin, zwei zu zapfen.
Als das Bier kam, tat Rutledge einen tiefen Zug, wischte sich mit dem Handrücken Schaum von der Oberlippe und sagte: »Zu schneller Herzschlag. Kopfschmerzen. Mir war, als müsst ich meine Gedärme auskotzen. Ich hab tatsächlich gekotzt. Kurz bevor ich umgekehrt bin. Hab das Fenster runtergekurbelt und rausgereihert, das hab ich.«
»Wow«, sagte Leandro, da irgendeine Art von Kommentar angebracht zu schien. Das Bild von Rutledge, der »zum Fenster rausreiherte«, flatterte durch seine Vorstellung. Er verdrängte es. Jedenfalls versuchte er es.
»Und seh’n Sie hier.«
Er zog die Oberlippe hoch und zeigte die Überreste seiner Zähne.
»Sehnse as och a vorn?«, fragte Rutledge. Leandro sah eine ganze Menge Löcher da vorn, fand es aber undiplomatisch, das zu sagen. Er stimmte einfach zu. Rutledge nickte und ließ die Lippe wieder herunterklappen. Was eine ziemliche Erleichterung war.
»Meine Zähne waren nie besonders gut«, sagte Rutledge gleichgültig. »Wenn ich wieder arbeite und mir ’n gutes Gebiss leisten kann, lass ich sie mir alle ziehen. Drauf geschissen. Worauf ich hinauswill, ich hatte die beiden Vorderzähne noch, als ich vorletzte Woche nach Haven aufgebrochen bin, um Granpa zu besuchen. Verdammt, die waren nicht mal locker. «
»Sind sie ausgefallen, als Sie sich Haven näherten?«
»Sind nicht ausgefallen. « Rutledge trank sein Glas leer. »Ich hab sie ausgekotzt. «
»Oh«, antwortete Leandro matt.
»Wissen Sie, noch ein Bier würd jetzt gut runtergehen. Reden ist …«
»Staubige Arbeit, ich weiß«, sagte Leandro und winkte der Kellnerin. Er hatte sein Limit überschritten, musste aber feststellen, dass er selber noch eines vertragen konnte.
4
Alvin Rutledge war weder der Einzige, der im Juli versucht hatte, einen Freund oder Verwandten in Haven zu besuchen, noch die einzige Person, der dabei so schlecht geworden war, dass sie umkehren musste. Mithilfe des Wählerverzeichnisses und des Telefonbuchs stieß Leandro auf drei
Leute, die ähnliche Geschichten wie Rutledge erzählten. Einen vierten Vorfall fand er durch reinen Zufall heraus – oder fast reinen. Seine Mutter wusste, dass er einen Aspekt »seiner großen Story verfolgte«, und erwähnte nebenbei, dass ihre Freundin Eileen Pulsifer ihrerseits eine Freundin hatte, die in Haven lebte.
Eileen war fünfzehn Jahre älter als Leandros Mutter und damit an die siebzig. Bei Tee und widerlich süßen Ingwerplätzchen erzählte sie Leandro eine Geschichte, die denen, die er bereits gehört hatte, sehr ähnlich war.
Mrs. Pulsifers Freundin war Mary Jacklin (deren Enkel Tommy Jacklin war). Sie besuchten einander seit mehr als vierzig Jahren abwechselnd und nahmen häufig an lokalen Bridgeturnieren teil. Diesen Sommer hatte sie Mary überhaupt nicht gesehen – nicht ein einziges Mal. Sie hatte mit ihr telefoniert, und es schien ihr gut zu gehen; ihre Entschuldigungen klangen immer so glaubwürdig … aber es schien etwas an ihnen – heftige Kopfschmerzen, zu viel zu backen, die Familie hatte kurzfristig beschlossen, nach Kennebunk zu fahren und das Trolley-Museum zu besuchen – nicht ganz richtig zu sein.
»Jede für sich war in Ordnung, aber alle zusammen kamen mir merkwürdig vor, wenn du verstehst, was ich meine. « Sie hielt ihm die Keksdose hin. »Noch Plätzchen?«
»Nein danke«, sagte Leandro.
»Oh, nur zu! Ich kenne euch Jungs doch! Deine Mutter hat dir gesagt, du sollst höflich sein, aber kein Junge konnte je ein Ingwerplätzchen ablehnen. Also komm her und nimm dir, was du dir so sehnlich wünschst!«
Leandro lächelte pflichtschuldig und nahm noch ein Ingwerplätzchen.
Mrs. Pulsifer lehnte sich zurück, faltete die Hände über ihrem runden Bauch und fuhr fort: »Ich dachte, dass etwas
faul sein könnte … um die Wahrheit zu sagen, das denke ich immer noch. Als Erstes glaubte ich ehrlich gesagt, dass Mary vielleicht nicht mehr meine Freundin sein wollte … dass
Weitere Kostenlose Bücher