Das Moor Des Vergessens
Geplänkel zweier Frauen weiter, die einander mochten, ohne sich zu verstehen. Judy war schließlich zu Bett gegangen und ließ Jane Kaffee trinkend und das Gemeindeblatt lesend am Herd zurück. Jane gab ihrer Mutter fünfzehn Minuten Zeit zum Einschlafen, dann tauschte sie ihre schicken Schuhe gegen die Gummistiefel aus und schlich leise aus dem Haus.
Jane bewegte sich an der Mauer entlang und bemühte sich, den Bewegungsmelder im Hof nicht auszulösen. Dann drückte sie sich gegen die Hecke und schaffte es bis aufs Feld. Sie drehte den Schlüssel im Schloss und schlüpfte langsam ins Schlachthaus. Sofort spürte sie, dass der Schuppen leer war. In panischem Schrecken schaltete sie die Taschenlampe ein und leuchtete durch den Raum. Es war ihr weniger wichtig, nicht entdeckt zu werden, als zu beweisen, dass ihr Gefühl sie getrogen hatte. Aber ihr Instinkt hatte ihr die Wahrheit angezeigt. Tenille war fort.
Jedoch nicht endgültig. Ihre Sachen waren noch da. Tenille wäre bestimmt nicht ohne ihren MP3-Player oder ihre Bücher weggegangen. Allerdings fehlte ihr Rucksack. Aber ihre Kleider zum Wechseln waren noch da. Wo war sie, zum Teufel? Machte sie einen Nachtspaziergang, weil sie dachte, zu dieser Zeit sei sie sicher? Und noch wichtiger, würde sie in der Dunkelheit den Weg zurückfinden? Jane überlegte, ob sie warten sollte, bis sie zurückkam. Sie wäre beruhigt, wenn sie wüsste, dass das Mädchen sicher im Schlachthaus untergebracht war, selbst wenn sie das Gefühl hatte, dass sie sich wie ihre eigene Mutter benahm. Und sie hatte den Verdacht, dass Tenilles Reaktion ihrer eigenen ziemlich ähnlich wäre - rutsch mir den Buckel runter, lass mich in Frieden, es geht dich nichts an. Nur würde Tenille sich nicht so zurückhalten, wie Jane das getan hatte. Sie würde loslegen, und der dünne Faden des Vertrauens zwischen ihnen würde reißen.
Und was würde dann geschehen? Was würde geschehen, wenn Tenille so wütend wurde, dass sie endgültig in die Nacht hinauslief und verschwand? Die Polizei würde sie früher oder später finden. Aber was wichtiger für Jane war: Sie hatte eine Botschaft für John Hampton in die Welt hinausgesandt. Wie würde er reagieren, wenn er anrief, nur um zu hören, dass Jane Tenille vertrieben hatte? Oder noch schlimmer: Was wäre, wenn er und Tenille schon Kontakt aufgenommen hätten? Was wäre, wenn er jetzt mit ihr auf dem Weg hierher war? Jane schauderte bei den Möglichkeiten, die ihr durch den Kopf gingen und Gestalt annahmen. Nein, es war besser, es dabei zu belassen und in ihr eigenes Bett zurückzukehren. Das Beste war, alles in eine Schachtel zu packen und es bis zum Morgen stehen zu lassen. So konnte sie zumindest ein wenig schlafen. Da draußen in der Dunkelheit tat sich einiges. Aber sie wollte gar nicht wissen, was es war oder wie es sich auf sie auswirken würde. Sollten sie doch ihr eigenes Ding machen. Sie wollte den Tag mit tiefem Schlaf zudecken.
Es war total gespenstisch, dass nur ein paar Tage, die sie außerhalb von London verbrachte, ihren Kopf so durcheinander gebracht hatten, dachte Tenille, als sie sich dem Randbezirk von Keswick näherte. Eigentlich war das die Art von Gegend, in der sie sich sicher fühlte, wo es Straßen und Läden gab statt Schafe und Hecken. Aber es kam ihr trotzdem so vor, als sei dies kein günstiger Ort für sie, ein Ort mit Menschen und Verkehr. Denn beides bedeutete auch Cops. Auf diesen Straßen zu sein war unheimlich und machte ihr Angst.
Das Schlimmste war, nicht zu wissen, wohin sie ging. Die offizielle Wanderkarte war hier für die Katz. Und mit einem Fahrrad ohne Licht konnte man auf den Straßen, wo ab und zu Autos vorbeikamen, Ärger bekommen. Als die Abstände zwischen den Häusern schmaler wurden, schob Tenille das Rad in eine Gasse und ging zu Fuß Richtung Stadtmitte weiter. Ohne Plan nutzte sie die schattigen Stellen aus, denn sie konnte niemanden fragen, nicht bei ihrem Aussehen. Fast hatte sie Heimweh nach London. Dort hätte sie einen Taxifahrer nach dem Weg fragen oder in ein durchgehend geöffnetes Internetcafe gehen und mit Hilfe von Google die Adresse orten können.
Aber sie hatte Glück. Als sie der Stadtmitte näher kam, liefen Straßen mit eng gedrängt stehenden viktorianischen Reihenhäusern nach beiden Seiten auseinander, deren Namen auf die Erbauungszeit hinwiesen. Diese Namen bedeuteten Tenille nichts. Aber als Sebastopol Street auf Inkerman Street und Crimea Street folgte, war sie sehr erleichtert.
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