Das Moor Des Vergessens
weiterarbeiten konnte. Seufzend griff sie in die dritte Schachtel und zog einen Papphefter heraus, der ein halbes Dutzend vergilbter Blätter mit den üblichen braunen Stockflecken enthielt. Sie waren eng mit einer schrägen Schrift beschrieben, die Jane als die von Williams ältestem Sohn, John, erkannte. Alle Briefe schienen an seinen Bruder Willy gerichtet zu sein und waren im Sommer und Herbst 1850 geschrieben worden, nur Monate vor Williams Tod. Die ersten drei enthielten gewöhnliche Familiennachrichten ohne tiefere Bedeutung. Aber als sie das vierte Blatt zu lesen begann, wurde ihr klar, dass dieser Brief etwas anderes war. Es schien die zweite Seite eines Briefes zu sein, und als Jane ihn las, spürte sie, wie ihr Gesicht sich rötete und ihr am Haaransatz der Schweiß ausbrach.
Zuerst konnte sie ihren Augen kaum trauen. Sie fragte sich fast, ob die Intensität ihres Wunsches dazu geführt hatte, genau das zu finden, wonach sie auf der Suche war. Aber es war keine Illusion. Je mehr sie las, desto klarer wurde es Jane, dass das, was sie da in Händen hielt, ein weiterer Baustein zu ihrer Theorie war.
Mit zitternden Fingern schob sie das brüchige Blatt in eine durchsichtige Plastikhülle. Sie starrte es ein paar Minuten lang intensiv an, dann erhob sie sich etwas unsicher. Sie musste Anthony suchen.
... was, das wirst du verstehen, eine Sache ist, die mir sehr am Herzen liegt. Ich möchte nicht schlecht von den Toten sprechen, aber die letzten Jahre meiner Ehe mit Isabella brachten uns alle mehr Kummer als Freude. Ich meine, man sollte nicht von mir erwarten, dass ich die Schande und das Unglück billige, das meine Verbindung mit dieser unglückseligen Familie mit sich brachte. Die Worte unseres Vaters blieben, solange er lebte, unbekannt und wurden nicht angezweifelt, und ich sehe keinen Vorteil darin, dies zu ändern. Kurz, ich habe die Anweisung unserer Mutter befolgt und getan, was sie für richtig befand. Ich habe Dorcas angewiesen, es sogleich aus meinem Haus zu entfernen und dafür zu sorgen, dass kein Auge es je wieder erblickt. Ich verbürge mich dafür, dass es jetzt, wo ich dies schreibe, nicht mehr existiert. Nichts würde durch irgendeine andere Handlungsweise erreicht, als dass der Name unseres Vaters beschmutzt würde, darin pflichtest du mir hoffentlich bei. Lass uns nicht mehr davon sprechen. Ich bete zu Gott, dass ihr alle guter Gesundheit seid, und hoffe, euch noch vor dem Monatsende zu sehen.
Dein dich liebender Bruder John
15
Anthony hielt die Sichthülle an den Ecken fest und konzentrierte sich mit gerunzelter Stirn intensiv auf den Text. Jane biss sich auf die Lippe und wartete seinen Urteilsspruch ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis er es auf seinen Schreibtisch legte, an seinem Pferdeschwanz herumfingerte und endlich den Blick hob und sie ansah. »Willst du Jake anrufen, oder soll ich es tun?«, fragte er. Seine Worte führten zu einem erschreckten Kribbeln in Janes Magen. »Jake?«
»Die Echtheit muss beglaubigt werden. Und die von Marys Brief genauso. Vordergründig betrachtet scheinst du ein weiteres Glied in der Kette entdeckt zu haben, das deine Theorie stützt, aber bevor wir sicher sein können, dass sie keine kunstvolle Fälschung sind, müssen die Dokumente untersucht werden.« Er lächelte. »Das gibt dem lieben Jake einen perfekten Vorwand, uns zu besuchen. Obwohl ich mir vorstelle, dass er keinen Vorwand braucht.« Jane war verlegen und kam sich zugleich töricht vor. Sie und Jake hatten sich durch Anthony überhaupt erst kennen gelernt. Er war zum Dove Cottage bestellt worden, um zu bestätigen, dass ein Bündel Briefe, das der Stiftung zum Kauf angeboten worden war, echt war. Weil sie sich so besonders für Wordsworth interessierte, hatte Anthony ihn ins Cafe geführt, damit er sie kennen lernte. Anthony hatte nicht gerade den Liebesboten gespielt - bei dem bloßen Gedanken daran, dass man ihm solche niedrigen Motive zutrauen könnte, hätte er vor Entsetzen gebebt. Aber er hatte sie beide zum Essen mit seiner Frau Deborah eingeladen, und war er auch nicht gerade der Geburtshelfer ihrer gegenseitigen Zuneigung, so war er doch bei der Geburt dabei gewesen. »Es wäre nicht angebracht, Jake zu fragen«, sagte sie ausweichend und überlegte, wie sie Anthony sagen könnte, dass die Beziehung beendet war, ohne dass es peinlich für sie beide wurde.
Als Anthony die richtige Antwort erriet, zog er die Augenbrauen hoch. »Aha«, sagte er. »Heißt das, dass
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