Das Moor Des Vergessens
halten und sie an den Bahnhöfen von Bussen und Zügen suchen. Trampen kam aus demselben Grund nicht in Frage. Da blieben also nur noch die lokalen Busse übrig. Sie musste eine Route ausarbeiten, auf der sie von London nach Fellhead kommen konnte, indem sie von Ort zu Ort fuhr. Tenille ging ins Internet und fand eine Seite mit einem Routenplaner für Autofahrer, wo sie sich nach einer Route erkundigte, die Autobahnen aussparte. Das würde ihr einen Überblick über die Orte geben, die sie ansteuern sollte. Sie druckte die Karte mit der Route aus und kreiste die Städte ein, durch die sie fahren musste. Dann ging sie auf die Websites der Busgesellschaften. Es war eine quälend öde Angelegenheit, bis sie schließlich eine Liste der jeweiligen Fahrpläne ausgedruckt hatte, die sich mehr oder weniger koordinieren ließen, um sie nach Fellhead zu bringen. Es würde zwei Tage dauern, aber sie war ziemlich sicher, dass sie es schaffen konnte.
Allerdings war es nicht gut, ein Risiko einzugehen. Sie würde es ihnen nicht leicht machen und musste ihr Aussehen verändern, für den Fall, dass ein Schlaumeier mit Adleraugen vorhatte, sich einen Namen zu machen. Sie betrachtete sich kritisch im Spiegel. Die langen Dreadlocks abzuschneiden wäre ein Anfang. Aber sie würde, sie musste mehr tun. In engen Kleidern war ihr Geschlecht klar zu erkennen. Aber in den weiten sackartigen Klamotten, in denen die jungen schwarzen Rapper herumliefen, konnte sie leicht als Junge durchgehen. Jeder, der die Augen nach einem jungen Mädchen offen hielt, würde bei dem Gang und dem Stil der Kleidung gleich wieder wegsehen. Sie würden sie in ihrer Verkleidung nicht erkennen. Besonders da sich die meisten Leute ja gar nicht wünschten, mit einem jungen Schwarzen Augenkontakt aufzunehmen. Manchmal waren Vorurteile auch von Vorteil.
Sie überlegte, ob Janes Garderobe ihr zu der richtigen Verkleidung verhelfen könnte. Jane war nicht groß, aber doch größer und auch stämmiger als Tenille. Eine schnelle Durchsicht der Kleidung zeigte, dass sie damit kein Glück haben würde. Nichts mit den richtigen Markennamen, nichts, in dem ein Straßenrapper sich sehen lassen konnte. Und vor allem keine große weite Jacke, um sich vor dem Wetter und den neugierigen Blicken zu schützen.
Tenille ging ins Bad, stöberte in dem Schränkchen, das an der Wand hing, und fand eine Nagelschere. Damit schnitt sie sich sorgfältig die Haare ab und ließ überall auf dem Kopf feste krause Löckchen stehen, wo die Dreadlocks gewesen waren. Das Gesicht im Spiegel war ihr jetzt fremd. Durch den Verlust der Haare, die das Gesicht eingerahmt hatten, wurden ihre feinen Knochen und die vollen Lippen betont. Sie fand, sie müsste als Junge durchgehen. Auf jeden Fall sah sie nicht mehr wie Tenille aus. Sie sammelte die Haare aus dem Waschbecken und schlich ins Arbeitszimmer zurück. Den Bullen würde sie keinen Hinweis hinterlassen. Mit einem Griff über den Schreibtisch machte sie das Fenster einen Spalt auf und ließ ihre abgeschnittenen Locken in die kalte Luft hinausfliegen, wo es schon dunkel wurde. Sie beobachtete, wie sie zur Erde trudelten, und stellte sich vor, dass sie da unten wie seltsame haarige Raupen auf dem Boden liegen bleiben würden.
Als Nächstes ging sie auf Zehenspitzen in die Küche. Sie wusste, wo Jane das hatte, was sie brauchte. Unter der Spüle fand sie einen Hammer und in der Schublade eine Taschenlampe. Sie nahm beide mit und verstaute sie in ihrem Rucksack.
Tenille starrte in den Abend hinaus, wo alles still war. Alles, was sie jetzt tun konnte, hatte sie erledigt. Und sie war immer noch eingesperrt, immer noch ohne Fluchtmöglichkeit. Bedrückt hockte sie auf dem Stuhl und fragte sich, wie sie es, verdammt noch mal, schaffen konnte, irgendwohin zu fahren, wo sie ihren Plan ausführen konnte. Sie saß da und starrte schon zehn Minuten trübsinnig auf die Busfahrpläne, als sie vor Schreck fast vom Stuhl fiel. Das plötzliche Klopfen an der Wand verwirrte sie total. Was hatte die bescheuerte Noreen Gallagher bloß vor? Es klopfte einige Male schnell nacheinander, dann eine Pause, dann wieder eine kurze Salve. Danach Stille.
Und die wurde von dem unverwechselbaren Geräusch unterbrochen, als Mrs. Gallagher ihre Wohnungstür öffnete. Tenille hörte das vertraute heisere Husten von Janes Nachbarin, dann: »Sie frieren sich doch hier draußen den Arsch ab. Kommen Sie mal rein und trinken Sie ein Tässchen Tee.« Ihre Stimme klang so unwirsch, dass
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