Das Moor Des Vergessens
wissenschaftlicher Exaktheit erörtern. Aber verfolgen Sie bitte trotzdem aufmerksam, was ich tue, und wenn nötig machen Sie sich Notizen. Sind Sie alle einverstanden?« Sie nickten und brummten zustimmend. »Sie müssen alle eine Einwilligungserklärung unterschreiben«, warf der Regisseur ein, »die uns berechtigt, Sie im öffentlichen Programm zu zeigen.«
»Gibt es dafür ein Honorar?«, fragte einer der männlichen Studenten etwas rebellisch.
»Dass Sie hier sein können, sollte als Honorar genügen«, sagte River. »Eine solche Gelegenheit gibt es nicht oft. Ich kann mit einiger Sicherheit sagen, dass Sie die einzigen zwei Studenten in einem Master-Studiengang sind, denen dieses Jahr eine so hautnahe Erfahrung mit einer Moorleiche ermöglicht wird. Sie sollten also einfach dankbar sein, dass Sie für diesen Gefallen nicht zu zahlen brauchen.« Sie wandte sich an den Regisseur. »Bevor wir anfangen, wollte ich Sie über einiges informieren. Ich höre, es gibt Gerüchte in der Stadt, dass dies die Leiche von Fletcher Christian sein könnte.«
»Wer ist Fletcher Christian?«, fragte der Regisseur. River musste sich zwingen, nicht die Augen zu verdrehen. »Der Typ, der die Meuterei auf der Bounty anführte.« »Was? Wie in dem Film mit Mel Gibson?« »Genau.«
Der Regisseur sah sie an, als sei sie verrückt. »Wie ist der denn in ein Moor auf Langmere Fell gekommen? Ich meine, das war doch im Südpazifik, oder?«
»Stimmt. Aber offenbar stammte er aus der Gegend hier. Und es gab ein Gerücht, dass er es schaffte, in den Lake District zurückzukommen.«
»Cool.« Der Regisseur sah irgendwie beeindruckt aus. »Ich habe mir überlegt, ob wir diese Vermutungen mit einbeziehen könnten. Würde das die Sache für die Zuschauer nicht attraktiver machen?«
»Ich nehme an, ja. Aber das werde ich mit Phil besprechen müssen. Er ist der Chef.«
River versuchte, ihre Ungeduld unter Kontrolle zu halten. »Ich habe heute früh schon recherchiert. Warum verfahren wir nicht einfach so, dass ich diese Sache erwähne, während ich arbeite. Wenn sich Phil dann dagegen entscheidet, können Sie es ja einfach herausschneiden. Wie wär's?« Der Regisseur hob die Arme. »Warum nicht? Wir tun alles, um einer Leiche ein bisschen Sex-Appeal zu geben.« River erlaubte sich das Lächeln einer Frau, die wusste, was attraktiv wirklich bedeutet. »Sind wir so weit?« Die Tonfrau starrte auf ihre Knöpfe hinunter und murmelte: »Ton läuft.« Der Kameramann schaute durch den Sucher und sagte: »Kamera läuft.«
River sah auf die Leiche hinunter. »Selbst eine so alte Leiche wie diese hier gibt uns eine Menge Informationen. Unser Körper wird zu einem Kode unserer persönlichen Identität. Er teilt der Welt mit, was mit ihm geschehen ist und wie er sich selbst verhalten hat. Sogar die oberflächlichste Untersuchung kann uns schon etwas sagen.« Sie wies beim Sprechen auf die Leiche. »Der Schädel, die Beckensymphyse, die Abnutzung der Gelenke - sie alle wirken zusammen und geben uns Auskunft, dass der Mann etwa vierzig Jahre alt war.« Sie sah zu den Studenten auf. »Diese Leiche wurde in Carts Moss gefunden, einem Sumpfgebiet am Fuß des Langmere Fell. Das ist an sich schon so ungewöhnlich, dass es hier in der Gegend Aufsehen erregt. Aber als man von den Tätowierungen hörte ...« Sie hielt inne, um auf die dunklen Schattierungen auf der dunkelbraunen Haut hinzuweisen, hob dann wieder den Blick und fuhr fort: »... entstand ein viel größeres Interesse.«
Sie fuhr mit der Hand sanft über die sterblichen Überreste auf dem Tisch. »Die forensische Anthropologie hat sehr viel mit Identität zu tun. Wer war dieser Mensch? Was geschah mit ihm in seinem Leben, und welchen Einfluss hatte dies darauf, wie er gestorben ist? Meistens gehen wir von wissenschaftlich fundierten Fakten aus. Aber wie die Archäologen müssen wir uns auch auf andere Hinweise verlassen. Manche davon beruhen auf Berichten und Erzählungen, manche haben mit den gesellschaftlichen Gegebenheiten zu tun, denn ohne ein Umfeld ist die Wissenschaft bedeutungslos. Was anekdotische Berichte angeht, haben wir hier eine faszinierende Möglichkeit. Könnte dies die Leiche eines Einwohners von Cumbria sein, der Fletcher Christian hieß und auf der Bounty eine Reise in die Südsee machte, wo er eine Meuterei gegen seinen Kapitän anführte? Bestimmt glauben einige der Ortsansässigen hier daran. Im Lauf der Untersuchungen, die wir durchführen werden, um all das zu entdecken,
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