Das Mordkreuz
gehört.»
«Ja, ich weiß.»
Heinlein dachte an die Aussagen von Thomas und seinen Freunden. Es hatte eine helle Erscheinung in jener Nacht gegeben, vor der die Jungen in Panik geflüchtet waren. Wären sie bei klarem Verstand gewesen, dann hätten sie vielleicht erkannt, dass sich jemand einen Scherz mit ihnen erlaubt hatte, und ein Mensch hätte nicht sterben müssen.
«Alles klar?», fragte Kilian besorgt, während er den grübelnden Heinlein auf dem Weg zum Wagen beobachtete.
«Ja, sicher.» Heinlein blickte auf die Uhr. Für Feierabend war es eindeutig zu früh. «Wollen wir noch raus nach Winterhausen fahren?»
«Rosie Wilde», rief Kilian seine Erinnerung ab. «Tödlicher Autounfall vor neun Monaten. Sie hinterlässt zwei Kinder und einen Ehemann.»
«Genau die.»
Sie stiegen in den Wagen und fuhren los.
«Wie war dein Gespräch mit dieser vergewaltigten Frau?», fragte Heinlein.
Kilian seufzte. «Mit ihr habe ich kein Wort sprechen können. Die Folgen der Vergewaltigung bringen bei ihr noch einiges durcheinander. Sie stand geistig vollkommen abwesend im Garten herum und hat Blumen gegossen. Dafür war ihr Mann umso gesprächiger. Er hat bestätigt, worauf Staatsanwältin Lichtenhagen bereits hingewiesen hat.»
«Dass Zinnhobel und Mangel in ihrer Urteilsfindung danebengelegen haben?»
«In der Konsequenz auf jeden Fall. Das Leben der Müllers steht nach so vielen Jahren noch immer unter den Auswirkungen der Tat. Ich weiß nicht, wie ich das verkraften würde, wenn Pia Opfer einer Vergewaltigung wäre.»
«Würdest du dafür töten?»
«Kann schon sein. Und du?»
«Wenn sich jemand an meiner Frau oder meinen Kindern vergreift, dann sehe ich rot. Da bin ich ganz Familientier.»
«Schon seltsam, wie sich das Verständnis von Gerechtigkeit ändert, sobald man selbst betroffen ist.»
«Manchmal wache ich morgens auf und frage mich, was wäre, wenn im Laufe des Tages das Unglück über meine Familie hereinbricht. Wie würde ich mich verhalten? Weitermachen wie bisher? Auf keinen Fall. Dem Gesetz das Recht auf Vergeltung überlassen? Mein Kopf sagt ja, doch mein Herz lässt das nicht zu. Ich kann nur beten, dass dieser Tag nie kommt.»
Kilian nickte zustimmend. «Wie ist dein Gespräch in der JVA gelaufen?»
«Ich weiß nicht, wie ich diesen Pirsch einschätzen soll. Er hat freiweg zugegeben, den alten Mann getötet zu haben. Kein Anzeichen von Reue. Darüber hinaus verrät er mir noch, das geheime Konto des Alten abgeräumt zu haben. Ist das nur Kaltblütigkeit und Habgier, oder stimmt bei dem tatsächlich etwas nicht im Kopf?»
«Laut erstem psychologischem Gutachten fehlt ihm jede Spur von Schuldbewusstsein. Folglich sei er nur vermindert schuldfähig.»
«Demnach müsste die Hälfte der Brüder, die wir überführen, in die Psychiatrie.»
«Wäre vielleicht der bessere Weg, als sie nur wegzusperren. Erst wenn sie erfolgreich therapiert worden sind, sollten sie den Anspruch erhalten, wieder in die Freiheit entlassen zu werden. Wie lange sitzt Pirsch noch ein?»
Heinlein grinste. «Sein Anwalt soll gerade die Wiederaufnahme beantragen. Der denkt überhaupt nicht daran, den Rest seiner Strafe abzusitzen, nachdem Zinnhobel und Mangel nicht mehr sind.»
«Dann hat er nur auf deren Tod gewartet?»
«Sieht so aus.»
«Könnte einer seiner Freunde nachgeholfen haben?»
«Soweit mir bekannt ist, hat er nur einen jüngeren Bruder, der sich meistens im Ausland aufhält und darüber hinaus noch depressiv ist. Ob der dazu imstande ist, kann ich nicht sagen.»
Sie näherten sich der Abfahrt nach Winterhausen. Laut Gerichtsakten sollte die Adresse der Familie Wilde gleich nach der Brückenüberfahrt unten am Ufer des Mains sein. Vorbei an viel Fachwerk und gepflegten Eigenheimen fanden sie das Haus mit einem wunderbaren Blick aufs Wasser. Wildgänse watschelten über das saftige Grün, eine Katze schlich um die Büsche am Ufer, und zwei Kinder spielten in einem Ruderboot die Überquerung des Ozeans. Das Hausverfügte über eine Garage, vor der ein rubinroter BMW stand.
Heinlein betätigte die Klingel, über der eine Tontafel mit handgemaltem Namen befestigt war. Nach dem dritten Glockenklang öffnete ein Mann die Tür. Heinlein stellte die Kommissare vor und fragte nach dem Witwer von Rosie Wilde, Gerald.
«Ja, das bin ich. Was kann ich für Sie tun?», antwortete er.
«Wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen», sagte Heinlein knapp. «Dürfen wir hereinkommen?»
Wilde stimmte zu und
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