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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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länger beschäftigte, auch in dieser Nacht. »Nein. Aber nervig«, log er.
    Sie schaute ihn wieder an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Du schwindelst.«
    »Ja.«
    Sie blies die Luft durch die geschlossenen Lippen aus. »Muss das sein?«
    »Ja.«
    Ein seltsamer Dialog, dachte Henri. Aber so lange hatten sie noch nie über seine Arbeit gesprochen. Bisher hatten sie dieses Thema immer umschifft, sobaldAndeutungen in dessen Nähe führten. Sie spürte offenbar, dass da Dinge geschahen, die völlig unerwartet waren und die in einem gigantischen Chaos enden konnten. In einem tödlichen Chaos.
    Er war noch am Nachmittag durcheinander. Professor Bernitschew fragte besorgt: »Sie sind heute aber nicht bei der Sache. Ich hoffe, Sie müssen sich keine Sorgen machen.«
    »Nein, nein«, sagte Henri. »Entschuldigen Sie bitte.«
    »Ich wollte heute über einen anderen russischen Schriftsteller mit Ihnen sprechen. Natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist …«
    »Selbstverständlich«, sagte Henri.
    »Kennen Sie Wassili Grossman?«
    »Nein.«
    Er sprach nun wieder Russisch: »Er ist der einzige legitime Nachfolger von Tolstoi. Als er Kriegskorrespondent war im letzten Krieg, da hatte er nur ein Buch dabei an der Front, und das war Krieg und Frieden. Er hat es mehrfach gelesen.«
    »Was hat er geschrieben?«
    »Einiges, aber sein wichtigstes Buch ist Leben und Schicksal. Darin verarbeitet er seine Erfahrungen und Erlebnisse, und es liest sich manchmal ein wenig wie Tolstoi.« Er lachte. »Es ist natürlich auch furchtbar dick, und die Zahl der Personen ist riesig, alles hängt miteinander zusammen, die große Geschichte und die kleinen Geschichten, das Schicksal der großen Männer und das der kleinen Leute.«
    »Ich habe nie davon gehört«, antwortete Henri auf Russisch.
    »Das liegt wohl daran, dass es lange Zeit verboten war, und das in der Chruschtschow-Zeit! Es stehen zu viele Wahrheiten darin.«
    »Ja, gewiss.« Merkwürdig, Henri fühlte sich unbedarft.
    »Sie müssen es lesen«, sagte der Professor. »Es wird Ihnen die Augen öffnen über unser Land. Warum wir zwei Mal den mächtigsten Heeren der Welt widerstanden und doch so zurückgeblieben sind. Bis heute.«
    »Das eine behandelt also die Invasion Napoleons und das andere Hitlers Überfall«, sagte Henri, um etwas zu sagen. Schließlich sollte er sein Russisch verbessern.
    »Es sind ganz ähnliche Geschichten in mancher Hinsicht. Das weite Land setzt den Aggressoren zu, das Wetter ist ihr Feind so wie die russische Armee. Beide unterschätzen unsere Menschen, ihre … Zähigkeit, ihren Willen, ihre Grausamkeit, ja, das muss man auch sagen, ihre Grausamkeit.«
    »Das wird Ihnen im dritten Krieg nicht viel nutzen«, sagte Henri und bedauerte es sofort. Es war ihm herausgerutscht, es plagte ihn.
    Doch Bernitschew nickte nur und schaute ein wenig traurig, während er mit seiner kalten Pfeife ein paar Mal auf den Tisch klopfte. »Sie haben ganz recht, Herr Martenthaler.«
    › ‹
    Major Eblow dachte immer wieder nach über ihr Gespräch. Viele Fragen plagten ihn, noch mehr plagte ihn die Gewissheit, dass er keine Antworten finden würde. Je mehr Menschen er einbezog, einbeziehen musste, desto gefährlicher wurde sein Projekt. Er hatte Henri von einer Gruppe in der Partei erzählt. Eblow lachte trocken. Gruppe! Er und Rachmanow waren allein, rechneten zwar mit der Unterstützung von ein paar Genos sen, die in den vergangenen Jahren mit ihrer Meinung kaum hinterm Berg gehalten hatten, aber gesagt hatten sie ihnen noch nichts über das, was Eblow einmal im Scherz Peter-Projekt genannt hatte und das diesen Na men behielt, nach Peter dem Großen, der Russland in einen modernen Staat verwandelt hatte. Würde irgend ein anderer Parteifunktionär von diesem Projekt erfahren, dann standen die Aussichten nicht schlecht, dass Eblow im Keller der Lubjanka endete. Er wusste, wie es da zuging und dass er nicht einmal den Trost eines heroischen Abgangs finden würde.
    Welch Anmaßung, dachte er, welch Anmaßung, dass zwei kleine Kader glaubten, den Schlüssel in der Hand zu haben. Doch erinnerte er sich gut an die Verzweiflung höchster Funktionäre, sofern sie nicht völlig abgestumpft waren. Je mehr sie mit Wirtschaft und Wissenschaften zu tun hatten, desto größer ihre Bestürzung, die fast durchweg in Resignation mündete. Sie sahen nur noch zu, wie das Schiff in die Richtung steuerte, wo der Eisberg schon wartete. Man erfuhr ja doch einiges über die Sitzungen des

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