Das Moskau-Spiel
in einem Nu wegblies. Dann kamen Graupel, die der Wind fast waagerecht über den Platz peitschte. Henri rannte fast zum GUM . Er betrat es durch den Eingang, der dem Lenin-Mausoleum am nächsten lag.
Die übliche endlose Schlange davor hatte der Regensturm zerfetzt, und man konnte den Genossen Lenin zwar fragen, was er von der Zimperlichkeit der heutigen Moskauer hielt, aber man durfte sich seine Antwort bestenfalls einreden. Er lag schweigend im Grab und leuchtete vor sich hin, was einen böswilligen Botschaftsmitarbeiter zu der Einsicht bewegt haben soll, dass die Mausoleumsverwalter dem Staatsgründer eine Leuchtstoffröhrein die hintere Körperöffnung geschoben hätten. Wehe, wenn die Leuchtstoffröhre mitten im Massenandrang zu flackern anfange.
Henri grinste, als ihm dieser blöde Spruch einfiel. Besser als Schiss haben vor dem KGB , der ihn womöglich gleich auf frischer Tat ertappte. Fast wäre er gleich wieder gegangen. Doch er zwang sich, die Sache durchzustehen. Er schaute auf die Uhr, er war zwanzig Minuten zu früh. Da wollte er sich noch nicht an die Tür stellen.
Er drängte sich durch die Menschenmenge, die in den Einzelläden des GUM einkaufen oder sich nur vor dem Regen schützen oder beides tun wollte. Wo Gemüse verkauft wurde, standen vor allem Gurkengläser in den Regalen. Das Schuhangebot wartete auf die Glücklichen, denen die wenigen Stiefel oder Sandalen passten, und die Frauenkleidung gleich neben einem Laden, in dem Wein und Spirituosen angeboten wurden, auf Kundinnen, denen es ziemlich egal schien, wie sie herumliefen.
Noch zehn Minuten. Henri kam an einem Café vorbei, in dem auch Süßigkeiten und Zigaretten angeboten wurden. Ein großer fetter Mann stritt sich an der Kuchentheke mit einer fast gleich großen und gleich dicken Frau mit Kopftuch und von unbestimmbarem Alter. Sie hatte ein Tortenstück auf der Kelle, dem infolge des von beiden Seiten erbittert geführten Wortgefechts das Schicksal vorbestimmt schien, zum Opfer eines Putzlappens auf dem Fußboden zu werden. Aber es fiel nicht. Und plötzlich lachte die Frau und lachte der Mann, sie schütteten sich aus vor Lachen, sie hielt sich die freie Hand vor den Bauch, dann klatschte sie das Tortenstück auf einen Teller, und ihm machte es nichts aus, dass er das Gewünschte brockenweise in die Hand gedrückt bekam. Abgelenkt von dem Spektakel, hätte Henri fast übersehen, dass zu Füßen des Streithammels ein Mann lag, den der Vollrausch davor bewahrt hatte, von dem jetzt beendeten Streit gestört zu werden.
Noch fünf Minuten. Henri drängte sich langsam in Richtung Tür. Er versuchte, sich nicht auszumalen, was gleich geschehen würde. Und doch packte die Angst nach ihm. Er vergewisserte sich mit der Hand auf dem Mantel in Innentaschenhöhe, dass er seinen Diplomatenpass tatsächlich eingesteckt hatte. Es beruhigte ihn. Durch die Menschenmenge erkannte er die Tür. Wo sollte er sich dort hinstellen, ohne aufzufallen, ohne im Gedränge weggeschoben zu werden und ohne Duschbad im Regenwasser.
Ich hätte mich nicht darauf einlassen sollen. Stattdessen im warmen Büro – verflucht, ist das kalt – mit Angela Morgenstern ein Schwätzchen halten. Heute hatte sie eine eng anliegende dunkelblaue Bluse an, sie war verführerisch gewesen.
Noch drei Minuten. Direkt neben der Tür, an der Wand, schien es etwas ruhiger zuzugehen, aber nass wurde man da auch. Wahrscheinlich hatte das KGB dieses Wetter bestellt und auch noch das Gerücht ausgegeben, heute gebe es Bananen im GUM .
Auf dem Brief hatte nichts gestanden von einem Erkennungszeichen. Warum, verdammt, ist ihm das erst jetzt eingefallen? Du bist ein Amateur. Wie soll der Typ dich erkennen? Es sei denn, er kennt dich schon. Stimmt, er hat dich auf dem Empfang gesehen, mit Irina im Schlepptau. Oder war es doch Irina, die ihn hierher gelockt hatte? Es war eine Falle, oder? Es konnte nur eine Falle sein. Außerdem sollte ich den Brief doch angeblich der zuständigen Person geben. Er war ja nicht an mich gerichtet, sondern an diese zuständige Person vom BND . Verdammter Mist, auf was habe ich mich eingelassen? Ich bin wahnsinnig. Es ist so kalt, verdammt.
Noch eine Minute. Er fröstelte, aber es war eher die Anspannung als die Kälte, die stoßweise ins GUM ein drang mit den Menschen, die hinein- und hinausströmten. Die Frischluft verwirbelte die Gerüche, die die Menschen und die Waren des Kaufhauses absonderten. Henri blickte nach oben, ins Dach mit den Stahlverstrebungen,
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