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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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wo der Dampf hinzog.
    Ein Stoß mit dem Ellbogen. Henri fuhr herum und sah über einen klein gewachsenen Mann hinweg, den er erst gar nicht bemerkt hatte. Als er seinen Blick senkte, traf er auf ein faltiges Gesicht mit einem mächtigen weißen Schnurrbart. Die dunkelblauen Augen des Mannes waren voller Angst. Er trug einen braunen Mantel mit Kunstpelzkragen und eine Russenmütze.
    »Sie sind der Empfänger meines Briefs?«
    »Ja.«
    »Kommen Sie!«, sagte der Mann ungeduldig mit einer quengligen Stimme. »Sie kennen mich nicht. Tun Sie so, als hätten Sie nichts mit mir zu tun.« Er sprach Englisch, gebrochen, aber verständlich. Es dauerte keine zehn Sekunden. Der Mann ging tiefer ins Kaufhaus hinein. Henri zwang sich, sich nicht nach Verfolgern um zuschauen, und folgte. Es war schwer, den Mann nicht zu verlieren im Gedränge. Wenn der kleine Mann es gewollt hätte, er hätte binnen Sekunden untertauchen können. Wie ein Fisch im Schwarm. Henri begann sich zu schelten. Du Idiot rennst herum wie ein wandelnder Leuchtturm. Hier fiel seine Kleidung sofort auf. So einen Mantel, so anschmiegsam, so hochwertig verarbeitet, mit Nähten, die nicht reißen konnten, aus einem Stoff, den man im besten Kaufhaus der Sowjetunion, diesem GUM , für kein Geld der Welt kaufen konnte. Die teuren Lederstiefel, die unten aus den modischen Karottenho senbeinen herausragten, sogar die Frisur machte Henri zum Objekt des Staunens und des Verdachts. Er fühlte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat, und wusste, es lag nicht nur am Dampfbad in der Menschenmenge, durch die er sich im Schlepptau des kleinen Manns drängte, sondern an seiner Angst, die sich in dem Maß steigerte, wie er die Fehler bedachte, die er beging und noch begehen würde. Er schniefte, einmal, dann noch mal, wie er es immer tat, wenn der Druck wuchs. Und dann kreischten in seinem Kopf bremsende Räder, und er wusste, der Aufschlag, dumpf und hart, würde kom men, Blech auf Blech, klirrende Scheiben, und dann wäre alles schwarz. Er blieb schnaufend stehen, musste stehen bleiben, sah in Trance, wie der kleine Mann in der Menge mit wegströmte. Hinterher, befahl er sich. Hinterher! Er setzte seine bleischweren Beine in Gang, tatsächlich, es ging. Offenbar hatte der Mann sein Tempo verlangsamt, obwohl er sich nicht umschaute nach Henri, schien er ihn doch im Blick zu haben. Doch einer von der anderen Firma? Wo lernt man es sonst? Beim BND eben nicht, sonst hätte ich nicht den Fatzke gemacht im GUM . Das weiß man doch, dass man als Westler sofort auffällt.
    Der kleine Mann war weg. Henri blieb stehen, spürte den Schweiß auf der Haut. Ein Offizier bewahrt immer einen kühlen Kopf. Das hatte der Vater gesagt, der Vater, der bei der kleinsten Kleinigkeit gestraft hatte. Das war doch auch nur ein Ausrasten, gezügelt durch Drill. Warum denke ich gerade jetzt an so einen Scheiß? Seine Augen suchten den Mann, sahen aber nur Köpfe, Hüte, Gesichter, Mützen.
    »Money change?«, sprach ihn ein junger Mann an, vielleicht einer aus Armenien oder Georgien. »Money change?«, wiederholte er. Er drängte sich an Henri, der schob ihn weg. »Money change?«, wiederholte der Mann wie ein Automat, aber schon mit Enttäuschung im Ton.
    Wo war der kleine Mann?
    Bleib ruhig. Seine Augen suchten systematisch, zentimeterweise von links nach rechts. Dann sah er ihn. Der Mann lehnte wie unbeteiligt an einer Säule und aß etwas. Als sich ihre Blicke wenige Sekunden kreuzten, zeigten die Augen des Manns nach links. Henri erkannte ein Lokal. Er drängte sich hin. Ein dunkel gebeizter Tresen, dahinter eine alte Frau. Auf dem Steinfußbodenstanden ein paar Tische und Stühle, auf denen schon Stalin gesessen haben musste. Erstaunlicherweise wackelte der Stuhl nicht, als Henri sich setzte. Er winkte zum Tresen und sagte nur: »Wodka!«
    Die Frau mit geblümter Schürze und Dauerwelle schaute kurz, nickte nicht einmal und erschien mit einem Tablett in der Hand und hundert Gramm. Sie pflanzte das Glas kräftig, aber ohne zu kleckern, auf den Tisch und verschwand kommentarlos hinter dem Tresen.
    Im Augenwinkel sah Henri, wie der Mann heranschlenderte. Er setzte sich mit dem Rücken zu Henri an den Nebentisch und rief etwas zur Frau, die gerade klirrend Flaschen ins Wandregal einräumte. Die Stimme des kleinen Manns quengelte im Befehlston. Die Frau grunzte etwas, dann stellte sie drei Flaschen ins Regal, schnaubte empört und verschwand hinter einer Tür neben dem Wandregal.
    »Wir müssen uns

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