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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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Fahrschule, ein Buchantiquariat und ein Lebensmittelladen mit schmutzigem Schaufenster untergebracht waren. Ein großes Tor führte auf den Hof, und dann war alles nicht mehr klassizistisch, sondern Beton pur, eine an die Rückwand des Hofes angeklatschte Mietskaserne mit hellhörigen Wänden, kreischenden Kindern, dröhnenden Radios und beschlagenen Scheiben. Vor dem Eingang standen Kinderwagen, Fahrräder, Tretroller, eine verrottete Kommode und undefinierbarer Müll im Schnee.
    Henri stieg die Treppe hoch, wich einer jungen Frau mit dunklen Augenringen aus, die ihn finster anstarrte, und erreichte endlich die dritte Etage, wo er an die Tür klopfte, auf der mit Bleistift Bernitschew geschrieben war. Die Tür öffnete sich, und er schaute hinab auf einen fast zwergenhaften Mann mit übergroßem Kopf, einer milchglasigen Brille auf der Nase und braun gefleckten Zähnen, im Mundwinkel eine kalte Pfeife.
    »Sie sind pünktlich«, sagte er mit fast jungenhafter Stimme. Darüber hatte Henri beim ersten Treffen schon gestaunt, der Mann hätte bestimmt auch Sänger werden können. Aber er war Professor für russische Literatur,und von der deutschen schien er nicht weniger zu verstehen. Sein Deutsch war fehlerfrei und ohne russischen Akzent. Beim letzten Mal hatte Henri noch gestaunt, dass es sich eigentlich nicht um Unterricht handelte, sondern um eine Unterhaltung in beiden Sprachen, und erstaunlicherweise war Henri schon überzeugt, dass es so auch ging, wenn nicht besser. Georg war doch ein erstaunlicher Mann, wo hatte er nur diesen Professor aufgetrieben? Und würde der keine Schwierigkeiten bekommen in diesem misstrauischen Land, wenn er einen Diplomaten aus dem Westen unterrichtete? Oder war er ein Spitzel und die Wände gespickt mit Wanzen?
    Der Professor führte Henri aus dem winzigen Flur über einen welligen Teppich, aus dem die Muster herausgetreten waren, in sein Zimmer. Es roch nach Tee, und der war, wie Henri erfahren hatte, stark und musste mit Milch und Zucker getrunken werden. Ein Becher wartete schon auf dem alten runden Tisch mit den unzähligen Flecken, dazu eine graue Kanne mit braunschwarzem Ausguss, eine Zuckerdose und ein Milchkännchen. Bernitschew wies auf den einzigen Sessel, und Henri setzte sich. Der Professor zog seinen Stuhl von dem kleinen Schreibtisch weg und setzte sich Henri gegenüber. Er goss Henri ein. Sein Becher stand noch auf dem Schreibtisch. An den Wänden Bücherregale, doppelt belegt die meisten, ganz oben auch Stapel. Unter dem schlierigen Fenster, das in den Hof hinauszeigte, ragten Bücherstapel auf dem Holzfußboden. An der Decke baumelte eine nackte Glühbirne.
    »Wir hatten über Tolstoi gesprochen«, sagte der Professor. »Krieg und Frieden.«
    »Ja«, sagte Henri, es hatte ihn gleich für den Professor eingenommen. Er liebte dieses Buch.
    »Und Sie hatten mir berichtet« – er sagte wirklich »berichtet« –, »dass Sie sich sehr für Waterloo interessieren. Das ist doch eine erstaunliche Übereinstimmung der Interessen. Finden Sie nicht auch?«
    Henri war versucht zu sagen, dass Georg Scheffer wahrscheinlich auch das berücksichtigt hatte. »Ich finde es sehr erfreulich«, erwiderte Henri. Er nahm Zucker und Milch, rührte um und trank einen Schluck.
    »Wenn man es genauer betrachtet«, sagte der Professor nun bemüht langsam und deutlich auf Russisch, »so kreuzen sich in Waterloo die Schicksale unserer Länder, auch wenn die Russen an dieser Schlacht nicht beteiligt waren.«
    »Ja«, sagte Henri auf Russisch, »ohne Russen wäre es nie zu Waterloo gekommen.«
    »Wobei man nicht weiß, ob das gut war«, lächelte der Professor. »Jedenfalls war das, was danach kam, schlecht.«
    »Ja«, sagte Henri, »das weiß man nicht. Ich gestehe, ich hatte immer eine Schwäche für Napoleon, er war viel … moderner als diese verbrauchten Könige und Kaiser.«
    Bernitschew lehnte sich zurück und lächelte wieder. »Unser Zar wollte sein wie er, Napoleon war eigentlich sein großes Vorbild, sein Idol. Aber er war eben der Zar.« Nun begann er überaus höflich Henri zu korrigieren, ihn auf die unzähligen Fallstricke des Russischen hinzuweisen.
    › ‹
    Mavick hatte schon während des Gesprächs begriffen, dass Henri eine andere Preislage war als Gebold. Der macht nicht mit, da war sich der Amerikaner sicher. Das ist einer von den unsicheren Kantonisten, folgt nicht der überwältigenden Logik der strategischen Argumente, sondern anderen Ideen. Welchen? Der ist nicht so ein

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