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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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er las: Du bist der Spion. Aber wahrscheinlich hatte sie es nicht einmal gedacht.
    Er hätte gern mit Scheffer gesprochen. Mochte sein, dass der wusste, was danach kam. Wenn es schlimmer wurde, was dann? Der Untergang. Sie würden nicht freiwillig kapitulieren. Sie hatten den blutigsten aller Kriege durchgestanden und keine Rücksicht auf die eigenen Opfer genommen. Welchen Grund gab es anzunehmen, dass sie nicht wieder alles in Kauf nehmen würden? Dass ihre Führung die eigene Vernichtung riskieren würde, nur um die geringste Chance zu nutzen, die sie sich einbildeten. Niemand geht freiwillig zur Schlachtbank, schon gar nicht in Moskau.
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    Major Eblow fuhr durch den Schnee und dachte nach. Wieder hingen die Flaggen auf halbmast, wieder würde das Politbüro einen neuen Generalsekretär vorschlagen, und wieder würde das Zentralkomitee ihn einstimmig wählen. So, wie es immer gewesen war in der Sowjetunion, wo man Meinungsverschiedenheiten nicht nach außen trug, sondern sie im Inneren klärte, um der Welt jederzeit die Geschlossenheit zu zeigen, die der führenden Macht des Weltsozialismus anstand, wenn sie den Imperialismus herausfordern wollte. Wir klären die Dinge eben unter uns.
    Er hatte an einer Sitzung führender Genossen der Zweiten Hauptverwaltung in der Lubjanka teilgenommen, und seitdem drohte sein Darm zu rebellieren. Das hatte er das letzte Mal erlebt, als er vor unendlich langer Zeit die Abschlussprüfung seines Lehrgangs gemacht hatte. Reiß dich zusammen, schimpfte er laut.Er fluchte sämtliche russischen Flüche, die er kannte, einen nach dem anderen und einen lauter als den anderen. Er fluchte nicht wegen Andropows Tod, obwohl er diesen asketischen Mann mit seiner intellektuellen Brillanz geschätzt und gehofft hatte, dass gerade dieser die Dinge wieder ins Lot bringen würde. Alles, was Breschnew hatte schleifen lassen, was verkommen war und schon zum Himmel stank. Er hatte auf einen Kraftakt gehofft wie im Krieg, wo man die Zauderer und Meckerer zum Teufel gejagt hatte, damit die voranschreiten konnten, die es auch wollten. Dass Tschernenko nun doch Generalsekretär würde, das überraschte ihn nicht, aber es verbitterte ihn. Warum stand im Politbüro niemand auf und schlug mit der Faust auf den Tisch? Lenin hatte es getan, Stalin, ja, der große Mörder, der hatte es auch getan. Und Chruschtschow nicht weniger, auch wenn der einigen Unsinn angezettelt hatte. Aber wer schlug jetzt auf den Tisch?
    Aber deswegen hätte Eblow nicht geflucht, jedenfalls nicht so derb und anhaltend. Er fluchte, weil er auf der Sitzung erfahren hatte von der Befehlsverweigerung des Oberstleutnants Stanislaw Petrow im Dezember vergangenen Jahres. Der Mann war aber nicht bestraft worden, und niemand hatte einen Grund dafür genannt. Petrow hatte als Kommandant eines Überwachungsbunkers südlich von Moskau die Führung nicht alarmiert, als sein Überwachungsmonitor ihm den Start amerikanischer Interkontinentalraketen zeigte. Er hatte das Schicksal der Sowjetunion in der Hand gehabt, und er hatte versagt. Das jedenfalls schienen die Chefs der Hauptverwaltung zu glauben, auch der Generalstab und sogar das Politbüro. Aber schon bevor die Sitzung beendet und man aus der stickigen Wärme des Konferenzsaals mit den Porträts von Dserschinski und Lenin an der Stirnwand in die eisige Kälte hinausgeströmt war, da hatte eine furchtbare Unruhe nach Eblow gegriffen. Es war nicht der Ärger über Petrows Befehlsverweigerung, natürlich war diese ein fast ungeheuerliches Verbrechen. Es war die Vorstellung, die von irgendwoher in sein Hirn einsickerte, dass dieser Petrow vielleicht das einzig Richtige getan hatte. Und dass die Führung, die sonst Genossen bei jeder Kleinigkeit abstrafte, auch aus diesem Grund so tat, als wäre nichts geschehen. Außerdem: Das sowjetische Frühwarnsystem arbeitete fehlerfrei, das war die Botschaft. Und deshalb konnte dieser Petrow nicht versagt haben.
    Während er seinen Lada über glitschiges Kopfsteinpflaster steuerte, versuchte Eblow sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn Petrow gemeldet hätte, was er hätte melden müssen. In der Nacht, bei wenigen Minuten Reaktionszeit, in der Gewissheit, dass schon die Detonation weniger Atomsprengköpfe über Moskau den gesamten Kommunikationsapparat der politischen und militärischen Führung lahmlegen könnte.
    Er stand an einer Ampel und sah vermummte Fußgänger über die Straße eilen, unsicher auf den Füßen, jederzeit bereit, einen Sturz

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