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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ditfurth
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wollen. Oder hat es einen anderen Grund?«
    Rachmanow schaute ihn fast verwirrt an. »Nein.«
    Dann schwieg er und aß. Henri nippte an seinem Wasserglas, trank sehr unrussisch nur einen kleinen Schluck Wodka und linste immer wieder zu Rachmanow, der ganz in Gedanken versunken schien. Rachmanow tupfte mit seiner Serviette, dann setzte er an, um doch nur seine Finger zu spreizen, als hätte er einen Krampf. Er betrachtete seinen Zeigefinger, als sähe er ihn zum ersten Mal, drehte ihn unter seinen Augen, um dann die Hand auf den Tisch zu legen, erst gespreizt, bis die Finger sich schließlich zusammenschoben. Mit der flachen Hand schlug er sachte auf den Tisch, schnaufte, wohl wegen Henris Unverständnis, aber was konnte man von einem Westler schon verlangen?
    Henri war versucht zu sagen, er warte immer noch, aber das wäre dieser seltsamen Stimmung nicht angemessen gewesen, die sich ausgebreitet hatte wie eine Staubwolke, die jemand vom Tisch hochgeblasen hatte. Rachmanow führte seinen Kampf mit sich selbst fort. Womöglich wunderte er sich, wie gelassen Henri die Information über Andropows Gesundheitszustand aufgenommen hatte. Er mochte sich sagen, dass es für den Westen mit der Sowjetunion ohnehin weitergehen würde wie gehabt. Breschnew, bei allem, was sie gegen ihn einwenden konnten, war doch verlässlich gewesen, jedenfalls nicht verrückt. Und warum sollte der Nachfolger nicht auch verlässlich sein, wo er doch von Breschnews Leuten inthronisiert worden war, und warum sollte der Nachfolger des Nachfolgers das Riesenreich nicht genauso sachlich steuern wie der Greis,der gerade erst abgetreten war? Vielleicht dachten sie wirklich so? Rachmanow war sich da aber nicht sicher. Er mühte sich, den Westen zu verstehen, aber bisher war es ihm nicht gelungen.
    »Wir hatten gehofft, Andropow würde die Missstände beseitigen, oder wie heißt es: den Augiasstall ausmisten, den Schlendrian beseitigen, die Trinkerei, die Korruption« – bei diesem Wort schaute er Henri in die Augen, als müsste er feststellen, jawohl, es gibt Korruption, auch wenn die Vorstellung entsetzlich ist –, »die Bürokratie, die Zustände in der Produktion« – in dem Wort »Zustände« klang »unglaublich« mit –, »die Versorgungsmängel, nicht einmal genug Nahrungsmittel pro duzieren wir!« Es war ein Ausbruch, Verzweiflung.
    »Aber im Rüsten sind Sie Weltklasse«, sagte Henri leise, als müsste er sich mühen, Rachmanow nicht zu beleidigen.
    Der trank ein Hundert-Gramm-Glas leer, in einem Zug. Wieder tupfte er sich die Lippen trocken, dann sagte er: »Andropow lebt nicht mehr lange, dann kommt Tschernenko. Der hat es nicht verwunden, dass er nicht Breschnews Nachfolger wurde, und die alten Genossen werden ihm den Gefallen tun. Als Wiedergutmachung. Er hat es verdient. Er verspricht Stabilität. Es soll sich bloß nichts ändern.«
    »Wenn er vielleicht ein bisschen abrüsten …«
    Rachmanow warf Henri einen finsteren Blick zu. »Vielleicht war es falsch, Sie hierherzubitten. Dann tut es mir leid, und wir vergessen das Gespräch …«
    »Entschuldigung«, sagte Henri, »aber Sie müssen zugeben, dass Sie meine Geduld ein wenig beanspruchen.«
    »Ich werde noch ganz andere Dinge beanspruchen«, erwiderte Rachmanow, ohne zu zögern, als hätte er sich gerade durchgerungen. »Ich erzähle Ihnen jetzt eine kleine Geschichte. Hören Sie genau zu. Jedes Wort ist wichtig. Es geht um nicht weniger als um die Frage, ob wir nächstes Jahr noch leben oder nicht.«

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VII .

    Die Gewissheit von Juri Andropows Tod erhielt Henri, als er an einem Abend im Februar 1984 mit Angela Morgenstern durch Moskaus eiskalte Innenstadt bummelte. Die Flaggen hingen auf halbmast. Am Nachmittag schon hatten die Radiosender ihre Programme geändert und spielten getragene klassische Musik. In der Stadt rasten auffällig viele schwarze Limousinen auf der für offizielle Fahrzeuge reservierten Spur. Dafür gab es nur eine Erklärung, Henri und Angela begriffen es sofort. Als sie in einem Café langsam auftauten, schüttelte Henri den Kopf. »Wenn sie jetzt Tschernenko zum Chef machen, wird’s eng.«
    »Auch nicht enger als vorher«, sagte Angela. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet.
    »Da wäre ich mir nicht so sicher. Sie werden weitermachen, bis es kracht. Auf beiden Seiten. Und dieser Tattergreis hat nicht die Kraft, irgendetwas zu ändern.«
    »Bis es kracht?«
    »Darauf läuft es hinaus.«
    Sie schaute ihn ungläubig an, dann zog sie an ihrer

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