Das Moskau-Spiel
Wohnung. An der Wand ein großformatiges Foto, ein Luftbild vom Marienplatz. Warum hatte er es aufgehängt? Er stand auf, torkelte zur Wand, riss das Foto mitsamt dem Nagel herunter und warf es auf den Boden. Es klirrte. Er lief über knirschende Scherben und setzte sich wieder hin. Im Bücherregal standen ein paar Romane, darunter eine dieser dämlichen Goethe-Ausgaben, die ihm mal ein Onkel geschenkt hatte, weil ihm nichts Gescheites eingefallen war, und Goethe ist immer gut. Dann ein paar Spionageromane, die er aber eher widerwillig gelesen hatte, weil sie diesen blöden Job, den sie machten, als romantisches Abenteuer schilderten, wo doch das meiste Papierkram war. Formulare, Berichte, Reisekostenabrechnungen, Dienstreiseanträge, Haus mitteilungen. Was ist der Unterschied zwischen einem BND – Offizier und einem Finanzbeamten? Es gibt kei nen. Jedenfalls zu neunzig Prozent. Oder mehr.
Im Bücherregal stand ein Becher, den hatten Kollegen ihm zum Geburtstag geschenkt. Wie originell! Er stand auf, das Knirschen unter seinen Füßen amüsierte ihn, er wankte zum Regal, zog den Goethe heraus, warf ihn auf den Boden, nahm den Becher und schleuderte ihn mit aller Gewalt gegen die Wand.
Er hatte die ganze letzte Woche gesoffen, aber heute Abend war er in Bestform. Es war alles richtig, was er tat. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken und Bilder. Sonja, Klein, der Rote Platz, warum haben sie gerade mich geschickt, wer hat diese Sauerei ausgeheckt? Dann festigte sich ein Gedanke, der sich aus Fasern formte, die sich in seinem Hirn drehten. Immer im Kreis herum. Er versuchte den Gedanken zu fassen, das Karussell in seinem Kopf anzuhalten. Wo ist die Bremse? Er setzte sich wieder aufs Sofa, überall Flecken, er musste Wodka verschüttet haben oder was anderes. Egal, was war dieser Gedanke? Er wollte ihn packen, aber er glitschte weg wie ein Aal. Einmal hatte Henri ihn zum Angeln mitgenommen. Es gibt nichts Glitschigeres als einen Aal, zumal die Biester zittern und strampeln, sogar nachdem ihnen der Schädel eingeschlagen war. Gerade glaubte er, es verstanden zu haben, dann löste sich der Gedanke auf wie eine Nebelwolke im Regen.
Dann musste er kotzen. Er kniete vor dem Klo, und doch ging was vorbei. Egal. Zurück auf dem Sofa, legte er sich flach. Er wollte noch etwas trinken, aber er fand die Flasche nicht. Nein, er wollte nicht mehr trinken. Er würde alles auskotzen, Verschwendung.
Die Gesichter von Mostewoj und Salachin. Sonja, nackt. Wie sie ihn in den Mund nahm.
Ach, scheiß drauf.
Am nächsten Morgen fühlte er sich so elend wie am vorangegangenen. Er musste sich noch einmal übergeben, dann gelang es ihm, ein Stück trockenes Brot zu essen. Er schnitt sich den Fuß an einer Scherbe, fegte mit Schwindel im Kopf alles zusammen und beseitigte die Reste mit dem Staubsauger. Dann setzte er sich auf seinen kleinen Balkon und schaute hinunter auf die Straße. Er fror bald erbärmlich, hatte aber das Gefühl, dass die Kälte ihn schneller nüchtern werden ließ. Dann fiel ihm ein, dass es keinen Sinn hatte, nüchtern zu werden. Warum dafür frieren? Er schaute auf die Uhr und überlegte, wann er wieder trinken konnte, ohne sich übergeben zu müssen. Aber eigentlich wollte er nicht trinken. Du hast genug. Er hatte solche Phasen schon erlebt, schweres Trinken, dann plötzlich ging es ohne. Eine Weile. Das hatte diesmal mit dem Gedanken zu tun, der sich im Kopf gedreht hatte. Immerhin konnte er sich erinnern, dass er an etwas Bestimmtes gedacht hatte. Wenn er den Gedanken fassen könnte, dann wüsste er, was er tun musste.
› ‹
»Und Sie wollen wirklich kein Geld?« Rasputin schüttelte den Kopf. Ein Auge tränte leicht.
»Es wäre mir geradezu ein Vergnügen, Ihnen Geld zu geben«, flüsterte Henri und mühte sich, die Lippen nicht zu bewegen.
»Ich tue es für mein Vaterland«, zischte Rasputin. »Aber das können Sie wahrscheinlich nicht verstehen.«
»Sie geben uns … das für Ihr Vaterland?«
»Natürlich, doch nicht, weil Sie so ein netter Mensch sind.«
»Ich gestehe, ich verstehe es nicht.«
»Das müssen Sie auch nicht verstehen. Hauptsache, Sie nehmen das Material.«
»Gut«, sagte Henri.
Er hatte bis dahin kaum mit seinem Spion gesprochen. Der Mann hatte erstklassiges Material über Moskaus neues Jagdflugzeug geliefert und war immer gleich verschwunden. Zu mehr als zu »Schlechtes Wetter heute« – »Nun nehmen Sie es schon!« – »Ich muss jetzt gehen« hatte es nie gereicht.
»Wenn
Weitere Kostenlose Bücher