Das Moskau-Spiel
an dessen Wand Ikonennachbildungen das Selbstverständnis des Orts unterstrichen. Dunkel gebeizte schwere Stühle mit gedrechselten Stäben in der Rückenlehne, das Tischtuch aus dunkelblauem Leinen, darauf ein Kerzenständer, den man von Weitem auch als Statuette hätte sehen können. Rachmanow hatte einen Wagen mit Chauffeur zur Botschaft geschickt, und der kleine, schmale Mann fuhr Henri wortlos den langen Weg zum Restaurant, schaute sich nicht einmal um, als der ausstieg. Drinnen erwartete ihn Rachmanow, als hätte er hinter der Tür gelauert, gekleidet in einen modern geschnittenen anthrazitfarbenen Anzug, der offenkundig nicht aus sowjetischer Produktion stammte. Der Russe führte Henri gleich ins Nebenzimmer und schloss die Tür von innen. Instinktiv schaute Henri sich um, ließ seine Augen vor allem über die Wände streifen. Rachmanow lächelte und schüttelte den Kopf.
»Wir können nachher gern einen Spaziergang machen, den allerdings wegen der Verdauung«, sagte Rachmanow. Er zeigte auf einen Stuhl und setzte sich, wobei er darauf achtete, dass Henri als Erster Platz nahm. Er stützte sich auf die Ellbogen und beugte sich ein wenig nach vorn, eine schmale Strähne seines gegelten Haars fiel ihm auf die Stirn, was die Bewegung nur betonte. »Ich möchte ganz offen mit Ihnen reden. Ganz offen. Aber zuerst holen wir uns etwas zu essen.«
Nachdem sie sich am Büfett bedient hatten und während Henri überlegte, ob er schon einmal ein reicheres Angebot gesehen hatte, und sich wunderte, dass sie offenbar die einzigen Gäste waren, nahm Rachmanow ein paar Happen des eingelegten Herings und aß sie ziemlich lustlos. Er tupfte sich vornehm die Lippen ab, legte die Serviette nachdenklich beiseite und schaute endlich Henri an. Der kaute gerade ein Stück Wildbraten, zumindest vermutete er, dass es sich darum handelte.
»Es ist alles für uns reserviert«, sagte Rachmanow.
Vielleicht gibt es hier wirklich keine Mikrofone, dafür aber Gedankenlesegeräte, dachte Henri. Er lächelte, was Rachmanows Aufmerksamkeit noch erhöhte.
»Andropow ist krank, schwer krank«, sagte Rachmanow.
Henri nickte. Er hatte es gehört und gelesen. Es wurde ja genau beobachtet, wie oft sich der neue Generalsekretär öffentlich blicken ließ und wie krank oder gesund er aussah.
Rachmanow spießte ein Stück Räucherfisch vorsichtig auf seine Gabel, betrachtete es und schob es bedächtig in den Mund.
Nachdem er geduldig gekaut hatte, tupfte er sich wieder die Lippen ab und murmelte: »Er wird bald sterben.«
»Ja? Und warum hat das ZK ihn dann gewählt? Einen Todgeweihten?«
»Das ZK weiß es nicht, von den Genossen im Politbüro auch nur wenige, Gromyko natürlich.« Er tupfte wieder, obwohl er nichts gegessen hatte.
Henri dachte: Sie haben eine Leiche gewählt, die noch ein bisschen zappelt. Warum machen die das?
Rachmanow schüttelte leicht seinen hageren Schädel, die Strähne klebte noch an der Stirn. »Es ist eine Katastrophe.«
Henri wartete, ob Rachmanow noch etwas hinzufügen wollte, dann erwiderte er: »Eine selbst verschuldete Katastrophe.«
Rachmanow nickte.
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Warten Sie es ab«, sagte Rachmanow.
»Ist das so eine Nummer wie mit Irina, nur ohne Sex?« Henri fand gleich, dass er zu scharf gewesen sei. Aber er fürchtete, in eine Falle gelockt zu werden. Vielleicht köderte Rachmanow ihn. Vielleicht lieferte er Informationen, um später einmal Dankbarkeit einzufordern. Vielleicht war es nur eine raffinierte Methode, Henri in einen Schlamassel zu verstricken, aus dem er nur mithilfe seiner sowjetischen Freunde herauskommen könnte. Vielleicht aber war alles ganz anders.
Rachmanow lächelte, blieb jedoch ernst: »Das ist keine Nummer. Ich verstehe ja, dass Sie eine Falle fürchten. Wir haben uns ein bisschen plump angestellt …«
»Sie sind also Offizier des KGB ?« Auch wenn Henri daran nicht zweifelte, wollte er sich diesen kleinen Sieg gönnen.
»Ich gehöre zu einer Gruppe von Mitgliedern der Kommunistischen Partei, die sich Sorgen machen.«
»Dazu haben Sie einigen Grund«, erwiderte Henri ruhig. »Die Lage ist beschissen, aber nicht nur in Ihrem Land.«
»Sie sollten mich ernst nehmen«, sagte Rachmanow.
Er schien ein wenig verärgert, und Henri nahm sich vor, sich seine Erleichterung über den Verlauf des Gesprächs nicht anmerken zu lassen.
»Ich nehme Sie ernst, natürlich. Aber ich frage mich, warum Sie mir das erzählen. Das tun Sie doch, weil Sie etwas von mir
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