Das Mozart-Mysterium
sichtbar.
Schnell rappelten wir uns auf und eilten nach oben. Im Eingang standen mehrere Wachen, die der Ursache des Lärms auf den Grund gehen wollten. Eine Wache stieg hinab, kam wenig später zurück und rief: »Alle müssen hinaus! Alle Wohnungen sofort räumen! Das Gebäude droht einzustürzen.«
Zwei weitere Wachen rannten die Treppe hinauf und klopften an die Türen der Wohnungen des Hauses. Wir hinkten hinaus zur Kutsche Mozarts, da die Wachen uns nicht mehr zurück in die Wohnung ließen.
Therese bot uns an, in ihrem Haus unterzukommen. Der Adlatus versprach, am Haus Wache zu halten und sich baldmöglichst nach oben durchzumogeln, um die Türen zu verschließen und Kleidung für uns zu holen. Da er Verwandte in Salzburg hatte, würde er anschließend vorübergehend dort wohnen.
Als wir in der Kutsche sitzend zu Thereses Haus fuhren und allmählich die Getreidegasse aus unserem Blickfeld verschwand, nestelte der Maestro an seiner Weste und zog einen Gegenstand hervor, der uns wieder etwas mit dem Schicksal versöhnte: Ein in rotes Leder gebundenes Buch, das mit grauem Staub bedeckt war.
»Es fiel mir in den Schoß, als die Mauer einstürzte«, sagte Mozart. »Ich denke, es ist das, wonach wir gesucht haben.«
Er steckte er das schöne Buch zurück in die sichere Verwahrung. Erst als wir uns ausgiebig in den schönen Wannen gebadet hatten – denn das geräumige Haus war für eine ganze adlige Familie ausgelegt – und in neuen Kleidern steckten, die Thereses Vater im Hause zurückgelassen hatte, setzten wir uns in Ruhe zusammen und untersuchten den Fund.
Im Keller des Schlosses Aigen spielte sich währenddessen eine bizarre Szenerie ab. Ein nackter Mann lag bäuchlings auf einem langen Holztisch und war an Armen und Beinen gefesselt. Mehrere Kapuzenmänner standen um den Tisch herum, einer schwang eine Peitsche durch die Luft und ließ sie auf den Rücken des Entblößten niederknallen.
Ein anderer sagte: »Strafe ist gewiss für einen Versager. Nun musst du die Dornenpeitsche spüren. Bleiben die Feinde am Leben, so wird der schwache Bruder unter den Unsrigen sterben.«
Der Liegende stöhnte unter weiteren Peitschenhieben.
Der brutale Mönch
Mozart legte das rote Buch auf den Tisch in der Wohnstube und wir harrten erwartungsvoll der Enthüllung des Inhaltes. Er wischte mit einem Tuch sorgsam den Staub ab und es wurde darunter ein edler roter Einband aus Maroquinleder sichtbar, der überdies mit floralen Ornamenten geprägt war. Mozart schlug die erste Seite auf. Der zweifarbig in Schwarz und Dunkelrot gestaltete Titel lautete:
› Christoph Gottlieb Schroeter,
Von der Kunst des Liedes.
Berlin, anno domini MDCCXLII ‹.
Mir war bewusst, dass dieser Titel genau die Thesen Mozarts bestätigte, die er mir im Keller als Begründung für den Ort des Versteckes vorgetragen hatte: Das Buch handelte grundsätzlich vom Lied und damit auch der Liedform, die nach Mozarts Theorie ebenso nach dem allumfassenden und vielleicht göttlichen Prinzip des Goldenen Schnittes (und der Zahl Phi) konstruiert war wie auch die Gestalt des Kruzifixes, das das Versteck markierte.
Wie Mozart uns mitteilte, war diese Schrift die Mitgliedsgabe des Musikgelehrten, der nach dem Autor des zuletzt von uns entdeckten Buches (Bümler) als nächster in die Mizler’sche Societät eingetreten war, denn Schroeter erschien an dieser Stelle in der mehrfach veröffentlichten Reihenfolge der bisherigen Mitglieder. Wahrscheinlich war Schroeter im Erscheinungsjahr des Buches, 1742, ernannt worden.
Mozart blätterte rasch weiter, bis er auf ein loses, zusammengefaltetes Blatt stieß, auf dem das Rätsel notiert war. Er legte es zunächst zur Seite, denn ihn interessierte im Moment am meisten das nächste Gesetz der idealen Melodie, das ebenfalls in dem Buch verborgen sein musste. Ich konnte sein Interesse gut verstehen, denn zum Schluss musste Mozart noch ein weiteres Gesetz der idealen Melodie finden und daher alle bisher formulierten Gesetze kennen.
Ich war mir sicher, dass ihm während der gesamten Suche nach Verstecken mögliche Gesetze der Melodie durch den Kopf schwirrten, ohne dass ihm genügend Zeit blieb, diese schriftlich zu fixieren.
Der gesuchte Satz stand ganz hinten, auf der Innenseite des Buchumschlags:
› Eine ideale Melodie steigert sich gegen Ende, sei es durch eine Kadenz, eine Wiederholung, einen Kontrast oder eine melodische oder harmonische Verdichtung ‹.
Mozart zeigte sich zufrieden
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