Das Mozart-Mysterium
kehrt der erste Teil nach einem gegensätzlichen Mittelteil etwas verändert als der dritte Abschnitt wieder, oder nicht? Man kann also eine sehr gleichmäßige Proportion beobachten, wenn man die Teile in Ihrer Dauer vergleicht.«
Ich musste ihm recht geben, denn er meinte damit die grundlegende Form fast eines jeden Liedes. Als ich mir das letzte Lied, das ich im geselligen Kreise gesungen hatte, in Erinnerung rief, erkannte ich, dass das Längen- oder Taktzahlverhältnis vom ersten zu den beiden folgenden Teilen durchaus etwa so sein könnte, dass letzterer insgesamt etwa um das 1,6-fache größer war, anders gesagt: um die Zahl Phi.
»David, Sie werden dieses Größenverhältnis überall wiederfinden, wenn Sie sich umschauen, selbst die Pflanzen sind so unterteilt. Wenn Mizler dies weiß – und davon gehe ich aus, da er das mathematische Konzept in der Musik sogar zum Ziel der Societät erklärt hat –, dann würde er oder sein Kompagnon diese Nische als Versteck auswählen.« Er trat an sie heran und leuchtete in jede Ritze. »Ich hab’s! Hier ist ein Loch!«
Ich kam dazu und erkannte in der rechten oberen Ecke ein Loch in der Rückwand der Nische. Diese bestand aus einer großen Steinplatte, deren rechtes oberes Eck offensichtlich abgebrochen war. Das Loch war jedoch relativ klein. Obwohl ein flaches Buch hindurchpasste, waren wir beide nicht in der Lage, hineinzufassen.
Ich rüttelte an der Platte, aber sie saß absolut fest. Mozart suchte im Keller nach einem geeigneten Werkzeug, um die Platte zu lockern. Er kehrte mit einem langen Holzstück zurück, das im Grunde nur ein kurzer, mitteldicker Baumstamm ohne Rinde und sehr, sehr schwer war.
Er trat etwas zurück, holte Schwung und ließ den Stamm auf die Steinplatte krachen. Nichts geschah. Wieder versuchte er es, diesmal holte er noch weiter aus.
Noch während er ausholte, wurde mir klar, dass die Steinplatte zugleich ein tragender Baustein der Wand war, auf dem die Steinmauern oberhalb ruhten.
Ehe ich eingreifen konnte, schlug schon der Baumstamm auf der Platte auf. Es knackte leise in der Wand. Danach Stille. Wieder hörte ich ein knirschendes Geräusch, nun aber aus einer anderen Ecke der Wand, plötzlich Krachen und Knirschen aus allen Ecken und Ritzen! Explosionsartig und ohne Vorwarnung kam uns die gesamte Wand in einer riesigen Dreckwolke entgegen und überschüttete uns mit einer nicht enden wollenden Wolke aus Steinen und Staub!
Ich spürte die Schläge der Steine gegen meine Brust, dann war Stille. Ich war von Nacht umgeben. Oben wurde verzweifelt mein Name und der von Mozart gerufen. Ich war mir nicht sicher, ob ich noch lebte oder mich schon im Jenseits befand. Nur langsam wurde mir bewusst, was eben geschehen war: Die Kellerwand war über uns eingestürzt! Die Kerzen mussten vom Staub gelöscht und aus meiner Hand gerissen worden sein. Ich hatte sie jedenfalls nicht mehr in meinen Händen. Völlige Dunkelheit umgab mich, als ich jemanden husten hörte.
Mit unsäglicher Erleichterung wurde mir klar, dass Mozart noch lebte. Tastend versuchte ich, aufzustehen, und war sogar in der Lage, mich frei zu bewegen, obwohl ich heftige Schmerzen im rechten Bein hatte. Schemenhaft nahm ich nun die Umrisse des Raumes war, nur erhellt von einem schwachen Lichtschimmer, der oben von der Kellertreppe kam. Von dort drangen auch die verzweifelten Rufe Thereses nach unten, die den Krach und die Erschütterung natürlich wahrgenommen hatte.
Ich kauerte auf dem Boden und entdeckte Mozart. »Sind Sie verletzt?«
»Ich weiß nicht, meine Beine sind verschüttet.«
Ich rief Therese zu, dass Sie Kerzen bringen solle, aber ich hörte bereits, wie eine ganze Gruppe Menschen oben zusammenrannte und ein erster mit Kerzen die Treppe herabkam.
Es war Franz, der Adlatus. Er trat zu uns und beleuchtete die Szenerie: Mozart saß, völlig von Staub bedeckt, inmitten eines großen Haufens Steine. Quer über seine Beinen waren Brocken verstreut, die ich sofort mit Franz zusammen wegschaffte.
Mozart kam langsam frei und konnte die Beine bewegen. Er tastete sich vorsichtig ab und war zufrieden. »Ich glaube, ich bin diesmal noch unversehrt davongekommen.«
Der Adlatus mahnte uns, sofort den Keller zu verlassen, da jederzeit weitere Teile des Gebäudes herabstürzen könnten. Wir sahen nun, dass nur noch die Hälfte der Wand stehen geblieben war und die halbe Schmalseite der Kellerwand fehlte. Die Erde dahinter, in die der Keller gegraben worden war, war
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