Das Mozart-Mysterium
sondern drehte sich schweigend um und gab uns ein Zeichen, ihm zu folgen.
Er ging langsam und leicht nach vorn gebeugt. Zielstrebig nahm er die erste lange Treppe zu unsrer rechten und stieg hinauf. Nachdem wir uns ratlos und etwas furchtsam angeblickt hatten, folgten wir ihm.
Der Mönch war bereits im ersten Obergeschoss angelangt und ging zielstrebig auf die leiterartige Treppe zum obersten Stockwerk zu, wir waren zurückgefallen, da wir langsam voranschritten, weil die extrem steilen Treppen für uns nicht sehr vertrauenserweckend aussahen und wir fürchteten, durch einen Fehltritt in die Tiefe zu stürzen. Als wir am Fuße der zweiten Treppe angelangt waren, konnten wir den Mönch wegen der schwachen Beleuchtung nicht mehr ausfindig machen.
Oben, von der letzten Treppenstufe aus, erkannten wir dann im Halbdunkel den Mönch etwa 20 Fuß links von uns, auf einem Balkon, schweigend vor den Regalen verharrend und uns entgegenblickend. In mir stieg Angst auf. Ich fürchtete, der Mönch sei vielleicht kein echter Mönch und könnte versuchen, uns von dem hohen Balkon hinabzustürzen. Wir gingen gemäßigten Schrittes zu ihm hinüber. Ich war jederzeit bereit, uns zu verteidigen.
Als wir noch etwa eine Manneslänge von ihm entfernt waren, blieben wir stehen und harrten der Dinge. Anstatt sich auf uns zu stürzen, wandte er sich zum Regal und zog ein Buch heraus, das er uns entgegenstreckte. Unsicher, wie wir reagieren sollten, zögerten wir.
Der Mönch sagte: »Bitte, das Buch mit der Signatur 1618.«
Es war so einfach! Die Zahl war, zusammengefügt und ohne Komma gelesen, eine Buchsignatur der Bibliothek. Mizler hatte das gesuchte Buch – die Mitgliedsgabe eines weiteren Mitglieds der Societät – ganz einfach an die Bibliothek gegeben. Aber war das nicht zu gefährlich? Das Rätselblatt konnte doch herausgenommen werden und verloren gehen. Ohne weiter zu hadern, trat ich vor und nahm das Buch entgegen. »Dürfen wir das für einige Tage entleihen?«
Der Mönch zuckte zusammen, da ich vergessen hatte, meine Stimme zu senken. Mit angewiderter Miene meinte er: »Ja. Natürlich. Tragen Sie sich unten in das Leihbuch ein, Herr Stark.«
Jetzt fuhr ich zusammen, denn der Mönch kannte meinen Namen, obwohl ich diesen Ort noch nie betreten hatte. Ich drehte mich um, ohne mich zu bedanken, und zog Mozart mit mir, der etwas verdutzt dastand. Ich blickte mich noch einmal kurz um, als wir den ersten Treppenabsatz erreicht hatten, aber der Mönch war verschwunden. Unten angelangt, trugen wir uns beide rasch in das große, offen ausliegende Leihbuch ein und verließen umgehend diesen düsteren Ort.
In der Eingangshalle der Universität war noch immer keine Menschenseele. Wir traten auf die Straße hinaus und atmeten tief durch. Es war bereits tiefe Nacht. Ich hatte das Bedürfnis, einfach wegzurennen, doch stattdessen ging ich gemessenen Schrittes neben Mozart her. Im Gehen blätterte ich in dem Buch. Übelkeit stieg in mir auf, als ich erkannte, dass das Folgerätsel fehlte.
Die Illuminaten
Als wir in meinem Zimmer und damit in Sicherheit waren, schlug ich das Buch erneut auf, nachdem wir uns in den beiden Sesseln niedergelassen hatten, die an der Fensterseite meines Schlafgemachs standen. Ich schüttelte das Buch und blätterte heftig darin. Es handelte sich um ein wissenschaftliches Werk. Ich las das Titelblatt:
› Leonardo Pisano, Liber abacci, Firenze MCCIII‹.
»Im hinteren Buchdeckel ist das Gesetz der idealen Melodie notiert. Aber kein Rätselblatt liegt bei, nichts! Überzeugen Sie sich selbst!«
Was ich sah, erstaunte mich: Es handelte sich um ein sehr altes, grob gedrucktes Buch, das fast nur aus Zahlenreihen und kurzen Texten bestand, geschrieben auf Italienisch. Der Einband bestand aus altem, brüchigem Leder ohne jede Zierde. Der Rücken wies zahlreiche Wurmlöcher auf. Das handschriftlich eingetragene Gesetz der idealen Melodie lautete:
›Eine Schlusswendung (Kadenz) des harmonischen Gerüstes erscheint zu Ende und mindestens einmal innerhalb der Melodie.
Johann Christian Winter. ‹
Mit einer verzweifelten Geste reichte ich Mozart das Buch.
24. Oktober
Mittlerweile brach draußen der Tag an und kaltes bläuliches Licht strömte herein. Bleierne Müdigkeit übermannte mich, doch ich hatte das sichere Gefühl, dass wir alle Informationen in den Händen hielten und uns nur der Schlüssel fehlte, wie wir sie zu verstehen hatten. Die Lösung musste nahe sein! Das
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