Das München-Komplott
Schienen, und der Schaffner sollte sich nicht einbilden, die Richtung bestimmen zu können.
Ich muss zurücktreten, dachte sie. Es hat keinen Sinn, weiterzumachen.
Oder sie musste sich anpassen. Wie der Großvater.
Liegt die Feigheit vielleicht doch in den Genen meiner Familie? Es sind ja nur ein paar Monate bis zur Bundestagswahl. Einfach Zähne zusammenbeißen und durchhalten. Ist das nicht vielleicht auch Tapferkeit?
Niemand erwartet von mir, dass ich etwas Besonderes tue. Alle erwarten nur, dass ich weitermache wie bisher. Alle wissen, dass ich mich fügen werde.
Nicht schmeichelhaft. Zum ersten Mal verstand sie ihren Großvater. Sie stellte sich vor, dass er sich so ähnlich gefühlt haben muss, als die Verschwörer des 20. Juli ihn um Hilfe baten. Er hatte sie verweigert, obwohl er wusste, dass der Krieg bereits verloren war und Nicht-Handeln größeres Elend für alle Deutschen bedeutete.
Aber es hat sich für ihn nicht ausgezahlt. Sie haben ihn trotzdem umgebracht, dachte sie.
Die Schmoltkes sind Feiglinge, dachte sie. Der Großvater, ich – wir alle. Nur die Großmutter nicht. Sie spürte, wie ihre Unterlippe zitterte.
Es ist genug.
An der Raststätte Brohltal bat sie den Fahrer anzuhalten. Der A8 rollte vor dem Glasgebäude mit der Schrägverglasung aus, und sie stieg aus. Sie nahm den schwarzen Lederkoffer aus dem Kofferraum und suchte dann die Toiletten auf. Sie wählte das Behinderten-WC. Dort war sie allein. Der Raum war doppelt so groß wie die normalen Kabinen auf der Damentoilette. Außerdem war sie auch als Wickelstube für Eltern mit Babys ausgewiesen. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Es gefiel ihr nicht. Es sah verzerrt aus. Und sehr müde.
Sie setzte sich auf die Toilette.
Plötzlich musste sie weinen. Lange und hemmungslos. Niemand würde sie hören.
Dann wusch sie ihr Gesicht und schminkte sich sorgfältig.
Rasch ging sie zurück zum Wagen.
»Stellen Sie ruhig etwas Musik an«, sagte sie zum Fahrer.
Was der Typ sich einbildete. Auch wenn er der Chef des Verfassungsschutzes war, so war er doch nur ein Beamter. Ein leitender Beamte zwar, aber doch jemand, der die Weisungen der Politik umzusetzen hatte. Der Primat der Politik, heißt es, und nicht der Primat von Vollzugsbeamten.
Was nimmt der sich eigentlich raus? Was glaubt der eigentlich, wer er ist? Ich bin gewählt und nicht er.
Ihr Kampfgeist erwachte wieder.
Legt sich mit einer von Schmoltke an. Von wegen Feiglinge!
Plötzlich stand die Idee in ihrem Kopf.
Klar und einfach.
Wenn die eine Behörde sich weigerte, würde sie sich an die andere wenden. An eine Behörde, die, wie sie weiß, in Konkurrenz zum Verfassungsschutz steht und die den Kollegen gern mal eins auswischen würde.
Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer des Bundeskriminalamtes.
»Von Schmoltke hier. Bitte geben Sie mir den Präsidenten, Herrn Dr. Schneider.«
»Änderung der Reiseroute«, sagte sie zu ihrem Fahrer, als das Gespräch beendet war. »Fahren Sie mich bitte nach Wiesbaden zum Bundeskriminalamt.«
»Sie erwarten von mir, dass ich gegen das Bundesamt für Verfassungsschutz ermittle?«
»Nicht ermitteln. Aber irgendjemand muss doch mal rausfinden, was deren V-Männer in der NPD eigentlich treiben. Wir haben keine Chance, diese Partei zu verbieten, solange jede Aussage, die wir als Beweis für die Verfassungsfeindlichkeit anführen, vielleicht von Bundesbeamten geschrieben wurde.«
Dr. Schneider lächelte und zog die rechte Augenbraue leicht hoch.
»Nach unseren Informationen«, sagte er, und sein Ton klang spitz, »steht jeder siebte hauptberufliche NPD-Funktionär auf der Kölner Gehaltsliste.«
»Was ist denn da falsch gelaufen? Es kann doch nicht sein, dass die Regierung nicht weiß, was die unteren Behörden alles treiben?«
Dr. Schneider nickte und wirkte dabei zufrieden. Er ordnete zwei Kugelschreiber auf dem Tisch vor sich neu und richtete sie exakt an der Tischkante aus.
»Vielleicht ist da etwas aus dem Ruder gelaufen«, sagte er.
»Aus dem Ruder gelaufen?«
»Sie sind im Bilde über die Operation, die der Verfassungsschutz unmittelbar nach der Wende im Osten durchführte?«
Charlotte hatte keine Ahnung. Sie schüttelte sachte den Kopf, eine Bewegung, die sowohl Nein, als auch »Ich erinnere mich im Augenblick nicht« ausdrücken konnte.
»Erzählen Sie!«
»Unmittelbar nach der Wende, eigentlich schon davor, als klar war, dass die DDR uns, also der Bundesrepublik, beitreten würde, lief eine
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